Nur bestimmte Miljöhs

True Crime boomt — auch in Köln. Podcasts, Bücher und Stadtführungen widmen sich der Verbrechensgeschichte der Stadt zwischen Giftmord und Miljöh. Aber wie wahr ist das Bild von Verbrechen, das dabei gezeichnet wird?

Irmgard Swinka war eine heimtückische Mörderin. Sie erschlich sich das Vertrauen älterer Frauen, um sie in ihrer Wohnung zu vergiften. Fünf Frauen fielen ihr zum Opfer, die letzte in Kalk. Danach wurde sie in einem spektakulären Prozess 1949 zu Tode verurteilt. Das Urteil wurde nie vollstreckt, da die Todesstrafe kurz darauf verboten wurde. Es ist ein Fall für die Geschichtsbücher.

Der Fall Irmgard Swinka ist nur eine der Kriminalgeschichten, die Kölner:innen und Besucher:innen immer wieder erzählt bekommen. Auf einer Rheinschifffahrt kann man sich den Handel mit gefälschen Reliquien im Mittelalter erklären lassen, es gibt Bücher und Podcasts, die reale Verbrechen von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart erzählen. Und das Kölner Miljöh der 60er und 70er Jahre, als die Kriminalität in der Sexarbeits- und Drogenszene der Stadt den Spitznamen »Chicago am Rhein« gab, kann gleich auf mehreren Stadttouren erlebt werden. Teils werden diese von Anton Claaßen, bekannt als Türsteher »Der lange Tünn«, selbst geführt. Und wer danach Lust auf mehr hat, kann sich noch eine persona­lisierte Videobotschaft von ihm erkaufen: der Ruch von Kriminalität als Geburtsgeschenk.

Als True Crime sind reale Verbrechen ein fester Bestandteil der Unterhaltungsindustrie. Aber nicht alle fühlen sich davon unterhalten. »Wenn ich einen True-Crime-Podcast höre, fühle ich mich unsicherer«, sagt Nicole ­Bögelein, Kriminologin an der Universität zu Köln. »Oft werden dort Gewaltverbrechen an Frauen geschildert, und ich identifiziere mich mit der Opferseite.« True-Crime-Formate seien jedoch wenig repräsentativ für Kriminalität, sagt Bögelein. Langfristig gesehen sinke die Anzahl der Verbrechen in Deutschland: »Die Tatsache, dass wir in einem sicheren Land leben, trägt sicher dazu bei, dass wir gerne True-Crime-Formate konsumieren«. Allerdings würde die mediale Aufbereitung dazu beitragen, die Kriminalitätsangst zu fördern, und zwar vor allem bei den Gruppen, die nicht besonders stark davon betroffen sind. »Frauen und alte Menschen haben am meisten Angst, ­Opfer eines Verbrechens zu werden«, sagt ­Bögelein. »Am häufigsten werden dies jedoch junge Männer.« Auch die Form der Gewalt werde verzerrt dargestellt. »Die häufigsten Delikte sind Eigentums- und Betrugsdelikte«, erläutert Bögelein, »in True-Crime-Formaten dominieren ­jedoch Tötungs- und Raubdelikte.« Für Köln gilt diese ­Regel ebenfalls. Viele Formate drehen sich über Mord- und Kidnapping, aber Wirtschaftskriminalität, rassistische Hassverbrechen wie die Anschläge des NSU oder die Aufarbeitung der Geiselnahme von Gladbeck, bei der ­Kölner Medien 1988 eine besonders unrühmliche Rolle eingenommen haben, sind fast nie ein Thema.

Für die Betroffenen kann die Aufbereitung eines Verbrechens als »True Crime« zu einer Retraumati­sierung führen

»Gerade Lokalzeitungen nutzen die True-Crime-Welle, um das eigene Archiv zweitzuverwerten«, sagt der ­Medienwissenschaftler Jan Harms, der an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf über True-Crime-Formate promoviert: »Aber oft wird True Crime auch benutzt, um investigative Recherchen zu erzählen.« So hat die Sueddeutsche Zeitung den Bilanzfälschungskandal bei Wirecard als Krimi erzählt, und die erste Staffel von »Serial« hat dem Mord an einer Schülerin in einer US-Kleinstadt hinterherrecherchiert. Dabei hat das Team so viel Neues zu Tage gefördert, dass das Verfahren neu aufgerollt wurde und mit einem Freispruch endete. Solche True-Crime-Geschichten seien jedoch eine Ausnahme, sagt Nicole Bögelein. »Normalerweise ist die Idee von True Crime, zu unterhalten.« Dabei würden die Formate oft mit den Mitteln des Boulevard vorgehen. »Die Menschen, die von einem Verbrechen betroffen waren, werden durch True Crime von diesem Verbrechen wieder heimgesucht.« Da Opferrechte in Deutschland nach zehn Jahren erlöschen, können viele alte Fälle ohne Einbeziehung der Familien der Opfer beziehungsweise Täter erzählt werden. Das könne für die Betroffenen zu einer Retraumatisierung führen, so Bögelein. »Ich finde es schwierig, die Interessen von Betroffenen den ökonomischen Interessen der Medienhäuser ­unterzuordnen.«

»Die Täterperspektive ist im True-Crime-Genre privilegiert«, sagt Medienwissenschaftler Jan Harms. Zumeist würden die Verbrechen durch den Blick auf Täter erklärt. »Dabei wird ein Verbrechen individualisiert, gesellschaftliche Einflüsse werden vernachlässigt.« In Einzelfällen würde diese Perspektive auch genutzt, um über so etwas wie eine »Natur des Bösen« zu spekulieren. Besonders ausgeprägt sei dies in Formaten über Serienmörder: »Sie werden dabei zu einer Art Ikone, dabei ist das Phänomen im realen Leben äußerst selten.« Aber auch die Opfer würden in ein Schema gepresst: »Sie werden zufällig ausgewählt und ihnen wird eine Mitschuld zugesprochen, weil sie sich riskant verhalten hätten.« Dabei würden in der Realität Gewaltverbrechen an Frauen oft durch Bekannte oder Familienmitglieder im häuslichen Umfeld begangen.

»Manche Formate nehmen die Opfergeschichte jedoch gezielt in den Blick«, sagt Jan Harms. Der als »True Hate Crime« gelabelte WDR-Podcast »Schwarz Rot Blut« etwa erzähle die Geschichte von verdrängten oder nicht aufgeklärten rassistischen Anschlägen und Verbrechen und räume dabei den Opfern genügend Raum ein. Auch Unterhaltungsformate wie »Mordlust«, die sich speziell an Frauen richten, könnten einen positiven Nebeneffekt haben. »Die Fans des Podcasts tauschen sich etwa online darüber aus, wie sie sich vor Gewalt schützen können«, sagt Medienwissenschaftler Harms.  

Auch Nicole Bögelein hat für sich einen Umgang mit dem True-Crime-Hype gefunden. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Gina Rosa Wollinger veröffentlicht sie den Podcast »True Criminology«, wo die beiden das öffentliche Interesse an Kriminalität nutzen wollen, um grundlegende Zusammenhänge zu vermitteln. »Bislang ist die Resonanz sehr positiv«, sagt sie. 

Hier weiterhören:
Schwarz Rot Blut: ardaudiothek.de
Serial: serialpodcast.org
True Criminology: true-criminology.podigee.io