Ambivalenzen aushalten

Kurator Thomas Glaesser fragt sich, wie er nach dem 7.10., dem Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten und dem sich anschließenden Krieg im Gaza-Streifen, weiterarbeiten wird

Digging The Global South, In Between Spaces, Night of Surprise, Oluzayo — so heißen einige der Festivals, Konferenzen und Konzertreihen, die Kurator und Musikpäadgoge Thomas Glaesser in den letzten 15 Jahren in Köln initiiert hat. Im Mittelpunkt seiner Arbeit: Neue, experimentelle, bislang unbekannte und vor allem Genre-sprengende Musik aus dem Globalen Süden (erstmals) nach Köln zu holen. Darunter sind viele arabische Musikerinnen und Musiker. Glaessers Veranstaltungen sind immer auch politisch, geht es doch darum ein hegemoniales, »westliches«, Musikverständnis aufzubrechen. Die Frage, was der »7.10.« für seine Arbeit bedeutet, drängt sich unmittelbar auf.

Fangen wir ganz direkt an. Was hast du aus den Musikerkreisen, mit denen du zusammenarbeitest, gehört?

Mein Eindruck ist, dass das für den Nahostkonflikt meines Erachtens irreführende antiimperialistische und postkoloniale Narrativ — ich packe das mal zusammen — unter Musiker*innen und Künstler*innen weit verbreitet ist. Das geht mit einer Sympathie für den Underdog und einer grundsätzlichen Machtkritik einher. Mir scheinen hier häufig sowohl historisches Wissen als auch eine analytisch reflektierende Haltung zu fehlen. Das ist zumindest mein Eindruck. Ich sehe viele schnell anspringende pro-palästinensische Sympathien und teilweise ein irritierendes Zurückscheuen davor, sich in aller Klarheit, oder auch nur in irgendeiner Form,  mit Israel und den Israelis zu solidarisieren, die hier völlig eindeutig angegriffen wurden. Letzteres habe ich jedenfalls viel weniger wahrgenommen. Bei den Künstler*innen aus dem arabischen Raum gibt es eigentlich viele Sympathiebekundungen, die stark auf die Opferperspektive der Zivilbevölkerung in Gaza Bezug nehmen . Das hat zu vielen Diskussionen geführt, auch mit Veranstaltern oder Spielstätten, mit denen ich zusammenarbeite.

Welche Art Diskussion?

Ob man Musiker ausladen müsste? Genau. Ich habe zum Beispiel einen Gastkuratorenauftrag für ein Festival, wo eine eingeladene Band, die im Schwerpunkt aus dem Nahen Osten kommt, sich selber bei mir gemeldet hat, um mich darauf aufmerksam zu machen, das alle Bandmitglieder BDS*-Unterstützer seien, um uns die Gelegenheit zu geben, von der Einladung Abstand zu nehmen. Sie haben vermutet, dass ihre Haltung für deutsche Veranstalter ein Problem darstellen könnte — und sie haben recht. Ich fand diese Form der »Selbstanzeige« einerseits irritierend, habe es aber gleichzeitig als sehr offen und kollegial empfunden, dass die Musikerinnen auf uns zugekommen sind. Die Frage »Ausladen — Ja oder nein?« hat uns auch schon mit Blick auf die letzte Night of Surprise beschäftigt, weil wir da einen Musiker eingeladen hatten, der sich nach dem 7. Oktober sehr ambivalent positioniert hat — es wirkte erst mal mitleidlos. Wir hatten damit ein großes Unbehagen im Kurationsteam.

Die Night of Surprise, das zum Hintergrund, fand am 14. Oktober im Stadtgarten statt.

Wir haben es dann nicht gemacht, also keine Ausladung ausgesprochen, haben aber mit dem Künstler, den das betraf, tatsächlich ein Gespräch geführt und unseren Standpunkt klar gemacht. Wir hatten im Anschluss fast das Gefühl, dass er in seinen folgenden Posts auf diese Rückfragen reagiert hat. Ich finde es generell eine schwierige Frage, wie man die Social-Media-Welt bewertet in diesem Zusammenhang. Es ist ein wahnsinnig flüchtiges Medium, dem die Filter und Verdichtungungen klassischer Formen von politischer und publizistischer Öffentlichkeit fehlen. Trotzdem bleibt da alles hängen und kann wieder hervorgekramt werden: Wer hat irgendwo mal ein BDS-Statement unterzeichnet? Was für Reposts fluktuieren durch die Instagram-Storys? Es ist ein Stammtisch, aber einer, der fortlaufend dokumentiert ist. Wir haben weder bei den Sendern noch bei den Empfängern ein Handling dafür, dass ständig filterlos privater Meinungsäußerungen veröffenttlicht werden, damit gehen viele Künstler*innen meines Erachtens nicht so reflektiert um, wie das sinnvoll wäre.

Und deine Konsequenz daraus?

Ein Dilemma. Fängt man an, die Musiker moralisch zu bewerten oder gönnt man ihnen den Mantel der Privatheit, den es aber eben nicht mehr gibt? Ich habe mit Lukas Ligeti darüber gesprochen, einem jüdischen Musiker und Komponisten, mit dem ich häufig zusammengearbeitet habe, zuletzt hier in Köln beim Oluzayo-Festival. Der sagte dazu im Wesentlichen: Ihr habt doch einen Musiker eingeladen, was gehen euch seine Postings überhaupt an? Das war seine erste Reaktion. Ich war verblüfft — und glaube, so einfach ist es nicht. Aber ich fand es eine überraschend klare Position. Ligeti meinte, ihr habt ihn nicht zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen, bewertet ihn nach seiner Musik.  

Ich finde, jeder Kurator sollte frei sein in seinen Entscheidungen, hat dann aber eine große Verantwortung, sich zu überlegen, wen er einlädt und warum.
Thomas Glaesser

Wir beide hatten bereits eine ähnliche Diskussion: Da ging es um einen Musiker, der eine skurille Corona-Leugnung vertrat. Das tat er nicht nur am Tresen oder auf Facebook, sondern ging mit breiter Brust in die Öffentlichkeit. Das wäre vielleicht so eine Grenzlinie, die über Ein- oder Ausladen entscheidet.

Auch wenn es manchmal weh tut, aber ich finde, das Strafrecht ist die Grenzlinie.

Okay...

Doch — das würde ich erst mal stark machen wollen gegenüber all diesen weichen Faktoren. Ich finde, jeder Kurator sollte frei sein in seinen Entscheidungen, hat dann aber eine große Verantwortung, sich zu überlegen, wen er einlädt und warum. Es kann sein, dass jemand eine hohe moralische Filterung anwendet und ein anderer eine rein ästhetische. Dazwischen gibt es viele Graustufen. Ich glaube, eine allgemeine Moral daraus machen zu wollen, ist auf jeden Fall ungünstig für künstlerische und kuratorische Gestaltungsfreiheit. Es ist gut, wenn man seine Kriterien klar definiert und sie vielleicht sogar transparent macht. Das Strafrecht ist eine harte Grenze und diesseits davon gibt es Problematiken, die man diskutieren muss, wo man aber nicht mit Verboten kommen sollte.

Du nimmst die Musiker sehr in Schutz.

Wenn ich mir anschaue, dass Philosoph*innen wie Zizek oder Butler mit unhaltbaren Kampfbegriffen wie Apartheid und Siedlerkolonialismus operieren, wenn also Leute von diesem Kaliber nicht sinnvoll differenzieren — wieso erwarten wir das dann von Musiker*innen, die vor allem  Musik machen? Möglicherweise haben wir hier eigenartig verschobene Erwartungen an den Grad politischer Bildung und Urteilskraft.

Werden Massaker und Krieg eine Auswirkung auf deine Arbeit haben?

Zeichnet sich da was ab? Ja, vor allem die Reaktionen darauf, haben viel Ungemütliches sichtbar gemacht. Vor diesem Hintergrund wird es für mich auch darum gehen, die eigene Arbeit kritisch zu überdenken. Es scheint mir bei Kurator*innen im Westen häufig  eine politisch  romantisierende, voreilige Identifikation mit dem globalen Süden zu geben, eine verzweifelte Suche nach einem revolutionären Subjekt. Ich habe versucht, dieses irgendwie orientierungslose  Begehren nach Veränderung mitten in der Überflussgesellschaft mit Digging the Global South zu thematisieren, Mit der Konzertreihe In Between Spaces ging es um die gegenseitige Durchdringung, das Aufbrechen von Identitäten. Aber beide Projekte waren möglicherweise trotzdem als experimentelle Musikveranstaltungen mit hippem Politfaktor lesbar. Daraufhin  möchte ich mich jedenfalls auch selber kritisch befragen: Ob die Sachen, die ich mache,  zu einem höheren Anteil als Teil dieser Romantisierung lesbar sind, als mir lieb ist. Ich glaube nicht, dass sich, was die Musiker angeht, die ich interessant finde und denen ich Raum geben möchte, viel ändern wird. Ich habe aber ein hohes Interesse daran, über Veranstaltungen nachzudenken, die der Verbindung von Musik und Reflexion mehr Raum geben. Ich weiß noch nicht, wie das gehen soll, aber ich denke, das ist dringend nötig. Und ich bin mir noch nicht sicher, wie ich in Zukunft reagieren werde auf diese politische Positionierungseile im Kulturbereich. Man war sehr schnell, was ukrainische Flaggen betraf. Die israelischen Flaggen haben mir dagegen gefehlt als erste Reaktion auf den 7.10. Ich hätte das eine starke und klare Reaktion gefunden und habe gemerkt, dass zu viele Leute sich schwertun, Sätze zu unterschreiben wie »Wir stehen an der Seite der Juden und Jüdinnen weltweit«. Immerhin kann das jetzt keiner mehr übersehen und wir werden hoffentlich kluge Konsequenzen daraus ziehen.

* BDS = Boycott, Divestment and Sanctions, weltweite Boykott-Kampagne gegen Israel; laut eines Bundestagsbeschlusses vom 17. Mai 2019 dürfen ­Veranstaltungen mit BDS-Bezug keine öffentliche Förderung erhalten.