Gerhart Baum in seiner Wohnung in der Südstadt

»Diese Distanz macht mich besorgt«

Gerhart Baum über den Eklat um die Arsch-Huh-Kundgebung und die Frage, warum große Demonstrationen gegen Antisemitismus bislang ausgeblieben sind

Herr Baum, der Vorsitzende der Synagogengemeinde, Abraham Lehrer, hat seinen Auftritt bei der Arsch-huh-Kundgebung am 3. Dezember abgesagt. Er fand, im Ankündigungstext seien Israel und die Hamas auf eine Stufe gestellt worden. Sie haben ihm recht gegeben, sich aber trotzdem entschieden, aufzutreten.

Ich halte Arsch huh für eine wichtige Initiative der Zivilgesellschaft in Köln, ich kenne die Akteure und schätze ihr Bemühen, die Demokratie zu stärken. Ihr Aufruf gegen Antisemitismus war ein wichtiges Signal, und man sollte jetzt nicht den Stab über sie brechen. Allerdings hat Arsch Huh in dem Aufruf eine irritierende Position eingenommen. Der Überfall einer Terrorgruppe auf Israel darf mit der Reaktion einer Demokratie, die sich mit dem Recht auf Selbstverteidigung wehrt und in Sicherheit leben will, nicht andeutungsweise auf die gleiche Stufe gestellt werden. Das ist im Aufruf von Arsch Huh aber geschehen. Abraham Lehrer hat zurecht die uneingeschränkte Solidarität mit Israel vermisst. Das sage ich unabhängig davon, dass die israelische Regierung auch zu kritisieren ist, was ich bei meinem Auftritt ja getan habe. Interessanterweise habe ich vom Publikum auch für meine kritischen Bemerkungen an Arsch Huh Beifall bekommen.

Manche meinen, Arsch Huh habe sich als moralische Instanz gegen Rechts disqualifiziert.

Das hat Arsch Huh nicht verdient, und wir werden sehen, wie Arsch Huh in Zukunft reagieren wird. Die Gräben müssen zugeschüttet werden. Ich habe mich bemüht, daran mitzuwirken.

Der Kabarettist Jürgen Becker, eine zentrale Figur bei Arsch Huh, sagt, man wolle die Gemeinsamkeiten suchen. Es trage zur Spaltung bei, wenn man sich an einzelnen Formulierungen aufreibe.

Es geht aber nicht nur um eine einzelne Wortwahl. Es ist eine fragwürdige Grundhaltung zum Ausdruck gekommen, die in unserer Gesellschaft offenbar stark verbreitet ist: Dass man jetzt mehr auf den Gaza-Streifen mit seinen humanitären Schrecknissen blickt als auf die Ursachen. Die Hamas will Israel vernichten, und die Juden auf der ganzen Welt dazu! Das hat sie mit diesem schrecklichen Überfall zum Ausdruck gebracht! Es darf nicht so sein, dass die Opfer als Täter hingestellt werden.

Es geht nicht um eine einzelne Wortwahl. Es ist eine fragwürdige Grundhaltung zum ­Ausdruck gekommen
Gerhart Baum

Bei der Demo wurde »Give Peace a Chance« gesungen, das Logo war das Peace-Symbol — ist das naiv?

Es gibt eine schwärmerische Friedenssehnsucht, auch in Hinblick auf die Ukraine: Hauptsache, es herrscht endlich Frieden. Aber Frieden ohne Menschenwürde ist nichts wert. Ja, diese Art der Friedenssehnsucht ist naiv. Die Nazibarbarei wäre nicht durch Friedenskundgebungen besiegt worden. Frieden wird vielfach nicht ohne Gewalt errungen.

Warum blieb es nach dem Angriff der Hamas so still in der Kölner Kulturszene, wo man sich sonst gern zu allem äußert — von der Stadtplanung in Köln bis zur Polizeigewalt in den USA?

Immerhin eines sagen die Kölner ja laut und deutlich: dass jüdische Mitbürger hier in Frieden leben können müssen. Es ist ein Unding, dass vor jeder Synagoge ein Polizeiauto stehen muss! Aber es stimmt: Es könnte mehr geschehen.

Große Demonstrationen gegen Antisemitismus sind bisher aber ausgeblieben.

Ja, und auch die Äußerungen von meinungsbildenden Menschen, von den ­Kirchen, von Intellektuellen. Es gibt einen Schriftstellerauf­ruf, aber in der Kulturszene ­­ insge­samt könnte das alles viel stärker sein. In Israel haben Hundert­tausende gegen die ­Verstümmelung des Rechts­staats demonstriert.

Warum war nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in Köln alles plötzlich blau-gelb, während man derzeit keine Israel-Flaggen sieht?

Ja, das ist merkwürdig. Diese Distanz zu Israel macht mich besorgt. Der Konflikt ist einzuordnen in eine geopolitische Auseinandersetzung zwischen autoritären Staaten und der Demokratie. Man muss das im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung um die zukünftige Weltordnung sehen. Der Weltfrieden ist bedroht — und viele meinen, dass wir davon nicht betroffen sind. Wann wachen sie endlich auf?

Gerhart Baum, 91, ist FDP-Politiker, ehemaliger Bundesinnenminister und Alternativer Ehrenbürger der Stadt Köln. Baum war langjähriger Vorsitzender des Kulturrats NRW und en­­gagiert sich bis heute für die Kölner Kulturszene.