Immer diese Widersprüche: Poesie des Schwerts

Schweben im Bambuswald

Das Kölner Filmlabel Rapid Eye Movies bringt einen Martial-Arts-Klassiker zurück auf die Leinwand

Es war einmal vor etwa einem halben Jahrhundert. Da hatten Cinephile einige Erweckungserlebnisse vor dem Fernseher dank eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der seinen Bildungsauftrag genauso wahrnahm wie seine Freude an der Unterhaltung. So wurde eine Reihe von Werken des Regie-Großmeisters Hú Jīnquán (vulgo: King Hu) dem bundes­repu­bli­ka­ni­schen TV-Publikum nahegebracht. Und wer sie damals sah, hörte lange nicht mehr auf, darüber zu sprechen. Martial Arts-Filme standen hoch im Kurs — auch wenn das Schreiben darüber in der BRD in jenen Tagen meist ignorant, moralisierend und letztlich arg xenophob war. Aber was man bei Hú zu sehen bekam, war sowieso noch mal etwas völlig anderes. King Hu war ein Poet des Raums und der Bewegung, ein Choreograph von Licht und Schatten. Auch seine Filme bestehen wie andere Martial-Arts-Werke zumeist aus Gefechten mit und ohne Waffen. Nur dass bei ihm die Kämpfer schon mal durch einen Bambuswald schweben, von Halm zu Halm springen, sich an ihnen festklammern wie Heuschrecken, um dann wieder loszuspringen. Das alles mit einer Präzision im Rhythmus, bei der selbst Eisenstein in Tränen der Dankbarkeit auf die Knie ginge. Bei King Hus Martial-Arts Kollegen reichte es zur selben Zeit meist dazu, dass ein fahrender Ritter oder Palastgardist eine Mauer hochhüpfte — keine weiteren Ideen von Raum oder Montage.

Die Szene mit dem Bambuswald findet sich in der Mitte von Hús Meister­werk der Meister­werke, »Xiá nu× — A Touch of Zen«, einem drei­stündigen Strom lyrischer Szenen, die von einem legeren Plot zusammengehalten werden. Der »Innenraum« dieses Films, seine »Kammer«, besteht aus einem ganzen Dorf mit umliegenden Landschaften. Die Figuren sind Gefangene ihrer Missionen und Schicksale, ihrer Masken und sozialen Rollen. Wider­stands­kämpfer werden von dem mächtigen Eunuchen-Geheimdienst verfolgt, der verhindern will, dass der Kaiser von deren Korruptheit erfährt. Im Zentrum der Geschichte steht die im Chinesischen titel­gebende Ritterin Yáng Huìzhēn, deren wider­sprüchliche Anlage sowohl als Erfüllerin patriarchaler Begehr­lich­keit wie auch als selbstbestimmt ihren Weg durch das Jiānghú navigierende Kämpferin dem zeitgenössischen Publikum allerhand an Toleranz abverlangte. Angeblich soll sie sogar der Grund gewesen sein, warum der Film bei seinem Taiwan-Start 1970 so brutal floppte, dass er nach einer Woche aus den Kinos verschwunden war. Zu subversiv. Mindestens genauso wichtig für die Handlung jedoch sind zwei weitere Figuren: der etwas tollpatschige und nicht immer sonderlich lebens­kluge Gelehrte Gù Shěngzhāi, aus dessen Perspektive man in die Geschichte hineingezogen wird, sowie der immer wieder in entscheidenden Momenten auftauchende Abt Huì Yuán.

King Hu war ein Poet des Raums und der Bewegung

Schließlich nimmt King Hu alle Fäden auf und führt sie zu ihrem logischen Ende, nur um in den letzten Bildern eine spirituelle Dimension zu enthüllen, mit der man nicht gerechnet hat. Und dennoch ist es nicht die wunderbar moralische, über komplexe ethische Fragen brütende Handlung, für die man »A Touch of Zen« in Erinnerung behält. Es ist die außergewöhnliche Regie, dieses Spektakel reinen Kinos.

Die eigentliche Bedeutung des 2104 restaurierten Films, den Rapid Eye Movies in seiner »Zeitlos«-Reihe jetzt wieder zur Aufführung bringt, liegt darin, dass Hú seine gestalterischen und philosophischen Interessen in eine dreistündige Form gießen konnte. In gewisser Hinsicht verbaute ihm dieses finanziell zunächst desaströse Unterfangen früh seinen Weg. Die meisten weiteren Produktionen King Hus nehmen sich daneben bei allem Genie wie Fingerübungen aus. In den 1980er Jahren war er zeitweise quasi arbeitslos, seinen letzten Film realisierte er 1992: »Painted Skin«, eine elegante Geister­geschichte. Der 1997 verstorbene Hú hätte einen Ausklang verdient gehabt wie Kurosawa, der einzige Regisseur, mit dem man ihn ernsthaft vergleichen kann. Aber jene wahre Gerechtigkeit, von denen so viele seiner Werke erzählen und keines so bezwingend wie »A Touch of Zen«, findet sich nicht in der (Kino-)Welt — man findet sie nur auf der Leinwand.

(Xiá nu×) 1971, R: King Hu
D: Feng Hsu, Shih Chun, Bai Ying
180 Min., Start: 21.12.