»Es fehlen Basiskompetenzen«

Wegen Schulschließungen während der Pandemie können viele Kinder schlecht lesen und schreiben. Bei Nachhilfeanbietern sind die Anmeldungen stark gestiegen

Lisa Greidel (Name geändert), zehn Jahre alt, vergisst Buchstaben: Schreibt sie ein Wort, lässt sie manche Buchstaben einfach aus oder verwechselt deren Reihenfolge, und in einem Diktat schreibt sie das gleiche Wort auf ganz unterschiedliche Weisen falsch. Sie schreibt grundsätzlich alle Wörter klein und mit etlichen Fehlern. Vorläufige Diagnose: Isolierte Rechtschreibschwäche. Das tritt eigentlich selten auf bei Kindern, aber es kommt vor: Sie können fließend und mit guter Intonation lesen, aber das Schreiben macht ihnen Probleme. Eine Unterkategorie der Lese-Rechtschreib-Schwäche, kurz LRS, für die man in der Schule einen sogenannten Nachteilsausgleich beantragen kann. In Prüfungen werden dem Kind dann andere Aufgaben gestellt, mehr Zeit zur Bearbeitung gegeben oder es wird ganz auf die Bewertung der Rechtschreibung verzichtet. Das Problem: Wie Lisa geht es ­derzeit vielen Kindern in ihrem Alter, und Lehrkräfte sehen daher gerade häufig von einer Antragstellung ab.

»Von LRS sind aktuell vor allem jüngere Schüler*innen betroffen, aus dem Grundschulbereich oder der Sekundarstufe 1«, sagt auch Thomas Momotow, Pressesprecher bei dem Nachhilfeanbieter Studienkreis. In den bundesweit mehr als 80 Legasthenie- und Dyskalkulie-Zentren ist die Nachfrage im Anschluss an die Corona-Pandemie sprunghaft angestiegen: 95 Prozent Neuanmeldungen verzeichneten sie im Juni dieses Jahres — fast eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr. Auch deutlich mehr Testungen werden durchgeführt. »In sehr vielen Fällen sind die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben ganz klar auf die Schulschließungen und den Wechselunterricht zurückzuführen«, sagt Thomas Momotow. »Wir haben Schüler*innen, die 2020 oder 2021 eingeschult wurden, und denen einfache Basiskompetenzen fehlen —  einfach weil sie diese nicht erwerben konnten. Auch weil sie mit digitalen Angeboten schlechter zurecht kamen als ältere Schüler*innen.«

Wir haben Schüler*innen, die 2020 oder 2021 eingeschult ­wurden, und denen einfache Basiskom­petenzen fehlenThomas Momotow, Nachhilfeanbieter Studienkreis

Die Lücken beim Erlernen von Lese- und Rechtschreibkompetenzen gilt es nun aufzuholen, notfalls auch außerhalb des Unterrichts, in Nachhilfestunden. Laut der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu), die im Mai vorgestellt wurde, erreichen in Deutschland ein Viertel der Kinder nicht das Mindestniveau beim Textverständnis — und auch ältere Schüler*innen schnitten in diesem Bereich schlecht ab, wie der »IQB-Bildungstrend 2023« zeigte. Dort landeten Neunt­klässler*innen im Fach Deutsch auf dem 14. Platz unter 16 Bundesländern.

Ein Problem, das Sebastian Fries, Pressesprecher vom Verband der Lehrinstitute für Orthographie und Sprachkompetenz (LOS), seit längerem beobachtet. Auch in den rund 100 Zentren in Deutschland und Österreich, die zu LRS beraten und eine Fröderung bei LRS und Legasthenie ­anbieten, sieht er einen deutlich gestiegenen Bedarf. »Wir haben deutlich mehr Anfragen für Grundschüler*innen, aber im Grunde zieht sich das durch alle Altersbereiche bis hin zu Abiturient*innen«, sagt Fries. Bei vielen seien die Probleme, etwa im Bereich der Rechtschreibung, dadurch offensichtlich geworden, dass sie während der Schulschließungen nicht mehr gemeinschaftlich in Gruppen gearbeitet hätten — und Eltern zu Hause im Home-Office überhaupt erst mitbekamen, wo bei ihren Kindern Förderbedarfe liegen. »Dass das Problem nicht nur jüngere Kinder betrifft, sieht man nun ja auch ganz deutlich an der aktuellen Pisa-Studie, bei der 15-jährige Jugendliche im Fokus waren.« Laut dieser Studie schnitten Schüler*innen in Deutschland beim Lesen, Schreiben und Rechnen so schlecht ab wie noch nie.

Lisa unterdessen stört sich nicht besonders an ihren vielen Fehlern bei der Rechtschreibung. Immerhin geht es vielen in ihrer Klasse ähnlich — und jetzt wird einfach mehr geübt: Im Unterricht, aber auch zu Hause — mit Briefen an die Großeltern. Ein Versuch, so die Lücken zu schließen, die zu wenig oder gar kein Unterricht gleich nach ihrer Einschulung hinterlassen haben.