Nachdenken über Klang, Grenzen, Haltung: Sebastian Gramss

Mit Dogmen spielen

Der Kölner Bassist Sebastian Gramss zieht seine Musik ins Extreme

Sebastian Gramss, Jahrgang 1966, Komponist, Bandleader, Bassist, Initiator spektakulärer Projekte, wie etwa der Bassmasse, in der bis zu 50 Bassisten — Kölner Bassisten — mitspielen, führt seit 30 Jahren die Tradition oder besser: den Stil der Kölner Jazz-Schule fort, der darin besteht, gerade kein Stil zu sein. Auch Gramss’ Musik hat keinen »Stil«, wenn man damit bestimmte Licks, Attitüden, einen festen Kanon an Stücken meint. Dennoch ist sie von hohem Wiedererkennungswert: Jazz als permanente Abweichung vom Jazz — also keine Standards, aber auch keine freie Improvisation. Legendär: das Kollektiv Underkarl, mit dem Gramss vor zwanzig Jahren den Jazz auf den Kopf stellte, weil sie es fertigbrachten, zum Beispiel Grunge oder Beat-Musik der 60er idionsynkratisch in eine (!) Jazz-Sprache zu übersetzen.

Gramss-Musik funktioniert in den unterschiedlichsten Kontexten — er ist Solist, spielt Kammermusik, schreibt Musik für die Bühne und hat Hörspiele konzipiert, er leitet große und kleine Gruppen, alles straff konzeptioniert und mit beeindruckender Lässigkeit vorgetragen. 2023 ist — wieder keine Überraschung — Gramss-Jahr. Mit seinen Gruppen Meteors und States of Play hat er, buchstäblich, verschlungene (Doppel-)Alben vorgelegt, deren Stücke in jeder Hör-Reihenfolge funktionieren. Es ist schwebende, sich im Hörraum zerstäubende Musik — mal klingt sie vertraut, aber weit entfernt; dann ganz nah, dafür nun umso weirder. Als arbeite Gramss mit bekannten (Jazz-)Parametern, aber auf unbekannte Weise. Und immer: herausragend.

Mal ganz platt, du suchst dir ja die Leute aus, die deine Musik spielen können. Sie bringen also was mit — und darauf musst du wiederum eingehen. Kurz gesagt: Du komponierst für Improvisatoren. Kann man das so sagen? Oder willst Du Komponisten zum Improvisieren verleiten? Auch nicht schlecht.

Ich würde sagen: eher ersteres. Wenn wir diesen musikalischen Prozess von den Meteors oder States of Play in Worte fassen, dann hantieren wir natürlich schnell mit bestimmten Begriffen, die oft anders konnotiert sind, als das, was ich meine oder beabsichtige, also eben Improvisation oder Komposition. Aber dieses Missverständnis will ich gar nicht ausschließen, die Musiker sollen ja gerade ihre Vorstellungen zu meiner Musik einbringen. Es geht auch nach einem Misserständnis weiter, manchmal sogar besser, man muss Flexibilität mitbringen. Wenn wir beide hier sprechen gehen, wir doch auch weiter und lösen, vielleicht, nach und nach Missverständnisse auf. Wir sprechen jetzt und improvisieren dabei.

Ich habe meine Notizen dabei, da schaue ich immer mal wieder drauf.

Okay, die Notizen wären jetzt die Stücke. Du hast Punkte, Ideen, Überlegungen, die du ansprechen willst und die können am Anfang oder am Ende des Gesprächs kommen. Das ist Flexibilität. Aber das Gespräch hat allein dadurch, dass wir uns hier treffen, dass wir uns vorher verabredet haben, es einen Anlass gibt, du was von mir wissen willst, einen Grundrahmen. Ist ja klar, dass wir jetzt nicht über das Wetter sprechen. So, und das ist für mich eine passende Analogie zum musikalischen Prozess.

Ist ja klar, dass wir jetzt nicht über das Wetter sprechenSebastian Gramss

Ich habe noch diese Anti-Kunst-Haltung erlebt, diese 60er-Jahre-Ideen: Fluxus, Indeterminismus, Antibürgerlichkeit. Bei Interviews mit Derek Bailey [legendärer ­Gitarrist und Improvisator, hat jede Fixierung seiner Musik abgelehnt] konnte es dir passieren, dass der überhaupt keine Lust hatte, über Musik zu reden und mit dir über das Wetter oder den letzten Urlaub geredet hat.

Na, so was kommt vor, klar. Wenn ich das mal übertrage: Du hättest vor dem Konzert so ein paar Stücke auf dem Zettel und vom ersten Ton an machen direkt drei Musiker klar, dass sie das Stück heute gar nicht spielen wollen, beim Konzert würde dann vielleicht gar kein Stück gespielt oder nur Fragmente — aber es wäre immer noch Musik. Ich mag diese Analogie zur verbalen Kommunikation, weil die das Thema »Improvisation und Anteil der Determinierung, der Bestimmtheit des musikalischen Materials« entmystifiziert. Wir improvisieren den ganzen Tag, aber wir bringen auch immer unsere Themen, Gedanken und Ticks rein. Das wir hier zusammensitzen ist unwiederholbar — aber unser nächste Gespräch würde ähnlich ablaufen.

… so wie die Musik der Meteors und von States of Play immer ­ähnlich klingt — im Verhältnis zu deinen anderen Projekten, im ­Verhältnis zum Jazz. Gleichzeitig weicht sie ab. Es ist Musik, die sich dann nicht wie konventioneller Jazz  entwickelt, also keinen ab­ge­droschenen Thema-Improvisation-Thema-Schemata folgt. ­Sondern sie fächert sich auf, sie geht extrem auseinander, aber sie zerfällt nicht. Man hat das Gefühl, dass sie sich zerstäubt im Raum, und es ist ein sehr großer Raum den die Musiker in deinen Stücken beschreiben...

Ja, es hat etwas Cineastisches, der Vorhang hebt sich und das Bild wird immer weiter, hat immer mehr Informationen, verändert sich, indem es sich vervollständigt — oder zum nächsten Bild übergeht. Wenn wir diese Analogie verlassen, dann komme ich zu meiner Grundüberlegung: Was bedeutet eigentlich Klang für mich? Was bedeutet Improvisation? Wie viel ist determiniert, also komponiert, wie viel nicht, wie viel muss Ad-hoc sein, damit ein Konzert diese spontane Kraft entwickelt, für die heute noch Wort Jazz steht.

Du setzt also immer einen konzeptionellen, kompositorischen Input.

Es kann auch nur ein Satz sein. Du brauchst ja nur zu sagen, spiele wenig und wiederhole es, bis es dir nicht mehr gefällt und ändere es dann in einem bestimmten Tempo ab, etwa in Abhängigkeit zur Gruppe, mit der du spielst. Dann entsteht ein musikalisches Perpetuum mobile. Der Punkt ist: Wie kann ich bestimmte Klischees, die sich in jeder Musik mit einer Tradition einstellen, vermeiden. Die radikale Improvisation hat ihre Dogmen, ihre Grenzen, wie jede andere Musik auch.

Dogmen haben die Eigenschaft, dass sie bleiben, die kann man nicht einfach wegdiskutieren.

Natürlich. Aber man kann mit ihnen spielen. Frank Köllges hat mal das James Joyce Orchestra, in dem ich damals mitspielte, dirigiert, das war hier im Loft. Er hat gesagt, okay, wir spielen jetzt einen Blues, aber ihr spielt nur 0,5 Prozent. Und da war nur noch so ein Schnaufen und Kratzen zu hören von der gesamten Band, immerhin 20 Leute. Wir waren alle in einem Ultraflüster-Modus, aber sehr ernsthaft vortragend, und dann hörte man diesen Blues ganz leise noch durchschallen. Das wäre für mich ein exemplarischer Umgang mit Dogmen. Du hast den Blues, ziehst den jetzt aber dynamisch ins Extrem, nicht ins Laute, sondern ins Leise. Da habe ich gemerkt, dass es da noch so viele Möglichkeiten gibt, die man in diesem Avantgarde-Kontext ganz gut integrieren kann, dass er wieder offen klingt.

Die Musik von Gramss ist auf Rent A Dog (Alive!) erschienen und z.B. unter sebastiangramss.de/shop erhältlich.