Der Autor als Zeitreiseleiter: Ilja Trojanow, © Thomas Dorn

Fabulieren bis zum ­Morgen

Ilja Trojanow hat ein großes Science-Fiction-Epos ­geschrieben

Es gibt ihn noch, den überbordenden Abenteuerroman, das virtuose Großepos — Ilja Trojanow hat es in einer utopischen Variante mit Science-Fiction-Anleihen ­geschrieben, und es heißt programmatisch »Tausend und ein Morgen«. Darin versammelt der deutsche  Autor, der schon in Sofia, Nairobi, Paris, Mumbai, München und Wien lebte, eine Gruppe Zeitreisender, die Chronautin, in einer nahen Zukunft, in der sich zwischen den Menschen alles zum Guten gewendet zu haben scheint. Unter den Chronautin ist auch Protagonistin Cya, die Trojanow zu den russischen Revolutionen von 1917, ins Sarajevo von 1984 und in ein zukünftiges Mumbai reisen lässt. Die Beratung der Chronautin vor Cyas erster Simulation geht so: »Welche Epoche?« — »Als Meeresströmungen zu Kapitalströmen wurden.« — »Wieso ­dieses Damalsdort?« — »Es wurden immer mehr Güter verladen, ­immer mehr Ladungen gelöscht, die Ströme wurden stärker, sie begannen, die Ozeane zu fesseln.« — »Setzt du nicht zu früh ein?« — »Wenn wir zu lange warten, werden sich Fesseln in Sehnen verwandeln.«

Solche historischen Kipppunkte zu lokalisieren, an denen sich noch eine andere Geschichte vorstellen ließe, darum geht es. Die erste Simulation führt Cya ins frühe 18. Jahrhundert zu karibischen Piraten, die mit ihren Überfällen die Schiffsrouten des Sklavenhandels stören, in die ­Expansion des europäischen Kapitalismus intervenieren könnten. Auch wenn man der Kulisse des Romangeschehens mehr ­Kolorit, den Figuren etwas mehr Kontur wünschen möchte, erzählt »Tausend und ein Morgen« eine Geschichte, die man so noch nicht gelesen hat.

Mit großer Lust am Erzählen lässt der Text auf seinen mehr als 500 Seiten in einem polyglotten Stil Genres und sprachliche Register kreuzen, stellt »Seine Exzellenz« und die »Schurken«, von denen sich die historischen Figuren bedroht sehen, neben den zeitgenössischen Sprech einer künstlichen Intelligenz. Mal ist der Text rechtsbündig gesetzt und in den teilweise seitenlangen Dialogen, in denen die Figurenreden aufeinanderfolgen, nimmt der Roman dramatische Züge an; die Zeilenbrüche muten passagenweise wie ein Prosagedicht an. Der Roman verfährt wie Cyas Schilderungen ihrer Simulationen vor den anderen Chronautin: »Sie kann nicht stillsitzen, springt die Heckleiter ihrer Erzählung rauf und runter. Bis alle Chronautin versammelt sind, hat sie vom Ende, vom Anfang und von jedem Atemzug ­dazwischen berichtet.«