Verbotene Früchte

Little Fugitive

In dem Oscarkandidaten von vor siebzig Jahren verbringt ein kleiner Ausreißer den Tag auf Coney Island

»Unsere Nouvelle Vague wäre nie entstanden«, gab François Truffaut 1960 zu Protokoll, »wenn es nicht den jungen Amerikaner Morris Engel gegeben hätte, der uns mit seinem feinen Film ›Little Fugitive‹ den Weg zu unabhängiger Filmproduktion wies.« Dieses Spielfilmdebüt, das beim Festival von Venedig 1953 den Silbernen Löwen gewann und dessen Drehbuch im Folgejahr für den Oscar nominiert wurde, war abseits der Filmindustrie für läppische 25.000 Dollar produziert worden. Zu dem Zweck hatte Engel, der als Navy-Fotograf den D-Day dokumentiert hatte, eine für den Kriegseinsatz entwickelte 35 mm-Kamera mit einem Freund so umgebaut, dass er sie vor den Bauch schnallen konnte. Die Aufnahmen, die ihm damit an belebten New Yorker Originalschauplätzen gelangen, wirkten so unvermittelt und diskret, dass »Little Fugitive« später auch von legendären Dokumentarfilmern wie D.A. Pennebaker oder Albert Maysles als Inspirationsquelle genannt wurde.

Folgerichtig verdankt sich der anhaltende Zauber dieses Films unter anderem dem Umstand, ein New Yorker Zeitdokument zu sein. Als Nachbarskinder dem siebenjährigen Protagonisten weismachen, er hätte seinen Bruder mit einem Luftgewehr getötet, nimmt der Dreikäsehoch mit der nächstbesten U-Bahn Reißaus — und landet in Coney Island. Im dortigen Vergnügungspark sowie am angrenzenden Strand sind fast drei Viertel der lockeren Handlung angesiedelt, was der Kamera Gelegenheit bietet, in die Menschenmassen einzutauchen, die sich in der Sommerhitze harmlos-vulgärem Zeitvertreib hingeben. Dabei atmen die Bilder jene unsentimentale Sympathie für die kleinen Leute aller Couleur, die bereits die linkspopulistische, illustrierte Tageszeitung PM auszeichnete, für die Engel in den 1940er Jahren als Fotograf arbeitete.

Im Hauptberuf war auch seine Ehefrau Ruth Orkin Fotografin, die mit ihm und Ko-Produzent Ray Ashley für die Regie des Films und das Drehbuch verantwortlich zeichnete. Das Skript mag als bloßer Vorwand für das Einfangen hinreißender Alltagsimpressionen erscheinen, doch es weist bei näherem Hinsehen eine ebenso solide wie luftige Erzählstruktur auf, die zum singulären filmhistorischen Status von »Little Fugitive« beitrug. Das US-Erzählkino hat jedenfalls fast nie wieder zu vergleichbarem Realismus gefunden, ohne dessen lyrische Leichtigkeit übergeordneten Genreregeln zu opfern.

USA 1953, R: Morris Engel, Ruth Orkin, Ray Ashley, D: Richie Andrsuco, Richie Brewster, Winnifred Cushing, 80 Min. Start: 21.12.