Den »unrechtmäßig Reisenden« gewidmet: Skulptur von Heinrich Brummack an der KVB-Haltestelle Akazienweg

Bahnfahren ohne Einfahren

Wer ohne gültigen Fahrschein mit der KVB fährt, kann im Gefängnis landen. Ein Beschluss der Kölner Politik soll das verhindern

Geld gegen Freiheit — das ist das Geschäft von Thomas Münch. »Wir haben ungefähr 20 Leute raus­geholt«, sagt der Vorstand vom Vrings­treff, der Beratungsstelle für Wohnungslose in der Südstadt. Vor zwei Jahren hat der Verein die Initiative »Freikaufen Köln« ins Leben gerufen. Sie hilft Menschen, die im Gefängnis sind oder kurz vor Haftantritt stehen, weil sie den öffentlichen Nah­verkehr ohne Fahrschein genutzt haben. Wenn sie in der Folge weder das erhöhte Beförderungsentgelt der Verkehrsbetriebe noch eine Geldstrafe, zu der sie verurteilt werden, zahlen konnten, erhalten sie eine sogenannte Ersatzfreiheits­strafe. »Das heißt nichts anderes als: Arme müssen in den Knast«, sagt Münch. »Das ist Klassenjustiz.« Die Initiative könnte bald weniger zu tun haben. Im Dezember beschloss der Rat mit großer Mehrheit, die Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB) anzuweisen, auf Strafanträge wegen »Beförderungserschleichung« zu verzichten.

Der politische Impuls für den Antrag ging von der FDP aus. »Kommunalpolitik kann über den Hebel der städtischen Gesellschaften darauf einwirken, dass kein Strafantrag gestellt wird«, sagt Volker Görzel von der FDP. Dass es in der Hand des Geschädigten liege, Anzeige zu erstatten, unterscheide das Schwarz­fahren von Diebstahldelikten, wo die Staatsanwaltschaft ermitteln muss. »Man respektiert in Köln weiter geltendes Recht«, so Görzel.

»Das Instrument der Ersatzfrei­heitsstrafe ist völlig unangemessen«, sagt der Jurist. Görzel geht es nicht um eine Sanktion per se. »Es bleibt unrechtens und wird weiterhin verfolgt. Und für die allermeisten Betroffenen bleibt es auch unangenehm, weil sie das erhöhte Beförderungsentgeld zahlen müssen.« Zudem erhofft sich Görzel Entbürokratisierung. »Justizbehörden, insbesondere Staatsanwaltschaften, ächzen unter Überlastung.« Da die meisten Verfahren ohnehin eingestellt würden, sollte man Schwarzfahren gar nicht per Strafantrag verfolgen.

»Natürlich hat eine Rolle gespielt, dass es in Berlin Überlegungen gibt, die in die gleiche Richtung gehen«, sagt Görzel. Das Bundesjustizministerium unter FDP-Minis­ter Marco Buschmann (FDP) plant, Schwarzfahren zu einer Ordnungswidrigkeit umzuwandeln, »gewissermaßen eine Straftat light«, sagt Görzel. »Ein Bußgeld-Delikt wie Falschparken — das hielte ich für angemessen.« Auch Thomas Münch hofft auf die Bundesregierung: Der Kölner Ratsbeschluss sei »der erste Schritt in die richtige Richtung und das, was Kommunalpolitik tun kann«. Der nächste sei, den Paragrafen 265a im Strafgesetzbuch zur Ersatzfreiheitsstrafe abzuschaffen. »Man bestraft die geringsten Vergehen mit der größten Strafe, dem Entzug der Freiheit durch Haft«, kritisiert Münch.

Man bestraft die geringsten Vergehen mit der größten Strafe, dem Entzug der ­Freiheit durch HaftThomas Münch, Vringstreff

Neben der AfD trug nur die CDU den Ratsbeschluss nicht mit. Sie sieht vor allem juristische Bedenken. Zum einen könne die Staatsanwaltschaft bei Delikten mit besonderem öffentlichem Inter­esse noch immer Strafanträge stellen. Zum anderen halte man für unklar, ob die Politik städtische Unternehmen auch Weisungen erteilen könnte, die ihnen betriebswirtschaftlich schaden könnten. Man produziere »eine unsichere Rechtslage«, so CDU-Ratsherr Felix Spehl.

Fahren ohne Fahrschein ist ein Armutsdelikt und der häufigste Grund für Ersatzfreiheitsstrafen. Nicole Böge­lein, Kriminologin von der Universität Köln, hat untersucht, welche Menschen Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen: Drei Viertel Langzeit­arbeitslose, jeder Fünfte ist ohne festen Wohnsitz, überdurchschnittlich viele sind suchtkrank, 15 Prozent suizidgefährdet. »Das sind die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft«, berichtet Thomas Münch. »Der Knast ist kein Ort für Menschen, die multiple belastet sind.« Ihre prekäre Situation verschlechtere sich in der Regel erneut und Probleme, die zu den Delikten geführt haben, würden gar verstärkt.

Wie sich die Entscheidung auf die KVB auswirke, bleibe abzuwarten, teilt das Verkehrsunternehmen auf Anfrage mit. Wenn man auf Anzeigen verzichte, befürchte man eine negative Signalwirkung und mehr Fahrgäste ohne gültigen Fahrausweis. Das könne Einnahmeverluste und womöglich höhere Ticketpreise zur Folge haben. Bisher gehe man mit dem Thema »durchaus sensibel um«. Nur wer dreimal innerhalb eines Jahres oder viermal innerhalb von zwei Jahren auffällig wird, werde angezeigt. Im Jahr 2022 traf die KVB 37.800 Fahrgäste ohne gültigen Fahrausweis an — 2,7 Prozent der kontrollierten Fahrgäste. Daraus folgten knapp 1800 Anzeigen und 400 Verurteilungen.

Offen bleibt, wann die neue Praxis die Busse und Bahnen der KVB erreicht. Düsseldorf fasste bereits im vergangenen Sommer einen ähnlichen Beschluss. Die entsprechende Weisung hat die Rheinbahn bis heute nicht erreicht. »Wir werden genau hingucken, wie die KVB mit dem politischen Beschluss umgeht«, sagt FDP-Politiker Volker Görzel. »Das ist kein Schaufenster-Antrag.«