Trügerische Ruhe: Es naht der Mann für alle Felle © Lighthouse Home Entertainment

Surrealistische Höhenflüge

Zwischen Dalíschnauz und Biberpelz: Die Fantasy Filmfest White Nights und das gewisse Etwas

Es ist nicht mehr normal, ins Kino zu gehen, keine alltägliche Beschäftigung mehr unter vielen, sondern ein Ereignis. Also guckt man den Norm-Slasher oder Standard-Actionfilm heute in der Regel daheim. Und wenn man dann mal ins Kino geht, muss es schon was Besseres sein. Dieses gehobene Kino sieht im Programm der Fantasy Filmfest White Nights dann so aus wie Gabriel Abrantes’ schauderhafter »Amelia’s Children«. Eine »Hommage« ans Genrekino, die mit Genre­motiven und -tropen um sich schmeißt, aber nicht die simpelsten Thriller- oder Horror­gestaltungs-Grund­hand­griffe hinbekommt, und sie auch gar nicht hinbekommen möchte. Ein Film, der einem dauernd signalisiert, dass ihm die Genre­motive bloß als Deko taugen.

Auf eine ähnlich Weise schlimm ist »Alienoid: Return to the Future« von Choi Dong-hoon, der »besser« mit »mehr« verwechselt. Mehr Genre-Bohei in noch lauter. Irgend­wann merkt man, dass all die Martial Arts- und ­Science-Fiction-Elemente letztlich reinem Maximalismus geschuldet sind. Pascal Plantes Darknet-Thriller »Red Rooms« schließlich scheitert — auf gestalterisch hohen Oberflächenreizniveau! — an einer End-of-History-90s-Erkenntnisbremse: Die Hauptfigur entzieht sich aller standard­gesell­schaft­lichen Lesbarkeit. Da sitzt man da und das Böse ist unfassbar, weil sich Serienmörder und deren Groupies halt ordinären Sozialkriterien verweigern — bis man sich irgendwann denkt: Na und?

Zwischen den Stühlen hängen Ole Bornedahls »Nightwatch — Demons are Forever«, Demián Rugnas »When Evil Lurks« und Kike Narceas »I’ll Crush Y’All«: Sie alle bemühen sich redlich und sogar weitestgehend erfolgreich darin, Genrekost frei von bourgeoisen Geschmacks- und Qualitäts­vorbehalten abzuliefern — für ein Publikum, dass das gewisse Etwas braucht.

Die größte Überraschung ist der neue »Nightwatch«, und sei es nur, weil das Original von 1994 so grotesk über­schätzt wurde. Zu den Qualitäten der grund­­solide gebauten, wenn auch ­motivisch etwas über­frachteten Fort­setzung gehört die Verweigerung jeglichen Humors, was der Schnörkel­losig­keit des Ganzen entschieden hilft. Im Gesamt­gestus bescheidener als ihr Vorgänger, hat sie intellektuell entschieden mehr zu bieten.

»When Evil Lurks« und »I’ll Crush Y’All« wiederum wollen vor allen Dingen mächtig was los machen, ersterer auf die würzig-frontal argentinische Weise, letzterer auf die aggressiv-stilvolle spanische Weise. Beide reißen es mehr von den Schauwerten her, das aber gekonnt.

Wenn man ins Kino geht, muss es etwas Besonderes sein. Aber dieses Besondere kann zu schauder­haften Filmen führen

Von dem mal absurd, mal grotesk Überbordenden bei Rugna und Narcea ist es nicht mehr weit bis zu den surrealistischen Höhenflügen von Quentin Dupieuxs »Daaaaaali!« und Mike Chesliks »Hundreds of Beavers«. In »Daaaaaali!« spielen Gott weiß wie viele Leute Salvador Dalí, für den man, ähnlich wie bei Hitler, einfach nur den Schnauz braucht, um ihn zu geben — alles andere sind Nebenwidersprüche. Irgendwie bewegt sich die Geschichte um einen Dalí-Film, der gedreht werden soll, vorwärts, obwohl man in einer Zeitschleife zu stecken scheint — alles ist eine Variation von etwas schon Gesehenem. Und weil es eine Variation ist, ist es auch eine Entwicklung. Das Ganze ist top Panne, Dupieux kein Dalí-Witz zu flach oder bescheuert — wobei man am Ende wahnsinnig viel verstanden hat, sowohl über Dalí als Künstler-Phänomen wie über die Nachkriegswelt an sich.

»Hundreds of Beavers« schließlich... Sagen wir es so: Hier hat jemand jeglichen Versuch aufgegeben, auf den konventionellen Wegen zu kommunizieren. Wo Menschen wortlos in Biberkostümen walten und durch eine stilisierte Schwarz-Weiß-Schneewelt stapfen, da lass dich nieder. Dass die Geschichte vom Apfelzüchter, dem eine Horde Biber die Ernte verwüstet, woraufhin er ins Pelzgeschäft einsteigt und mit einem Bibermassaker reich werden will, so seine politisch brillant-spitzfindigen Seiten hat — Stichwort: Kolonialismuskritik –, ist nur die Kirsche auf dem Sahnehäubchen auf der fettesten Torte seit langem. Für »Daaaaaali!« und »Hundreds of Beavers« allein lohnt es sich, dass die Fantasy Filmfest White Nights 2024 stattfinden.

Fantasy Filmfest White Nights

Sa, 3.2–So, 4.2.
Residenz Astor Film Lounge
fantasyfilmfest.com