Ohne Helm und ohne Gurt: Kurt Tallert, Foto: Constantin Arei

Skit des Lebens

Kurt Tallert, aka Rapper Retrogott, beleuchtet in »Spur und Abweg« die Geschichte seiner jüdischen Familie

Auf älteren HipHop-Platten gibt es einen Standard namens »Skits«, kurze Spoken-Word-Passagen, auf denen die Rapper:innen mitteilen, wofür in ihrer eigentlichen Kunstform — dem Reimen — kein Platz ist: Persönliches, Philosophisches oder dahingelaberter Quatsch.

Vielleicht ist »Spur und Abweg«, das erste Buch von Kurt ­Tallert, besser bekannt als Rapper Retrogott, auch ein langer Skit. Um Quatsch geht es dabei nicht, um Persönliches und Philosophisches umso mehr. Tallert begibt sich auf 240 Seiten auf die Spuren seiner Familie, allen voran seines Vaters Harry. Das Internet verrät nicht viel über ihn: 1927 in Beuthen geboren, 1997 in Bad Honnef gestorben, SPD-Bundestagsab­geordneter unter Willy Brandt, Journalist. Was der 1986 geborene Sohn Kurt dem hinzufügt: Sein Vater galt unter den Nazis als »Halbjude«. Die Hitlerjugend musste er deshalb verlassen und wünschte sich, er könne mit einer Heldentat seine Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft der Deutschen beweisen. Stattdessen muss er 1945 mehrere Monate in einem Arbeitslager verbringen.

Als »schwer zu ertragende Leere« beschreibt Kurt Tallert die Position der Überlebenden nach Kriegsende: Ihre Erfahrungen und Stimmen haben kaum Platz in der damaligen Kollektiverzählung der Deutschen als Besiegte. Sein ­Vater Harry füllt diese Leere mit Alkohol und Schamgefühlen. ­Seine Frau, Kurts Mutter, versucht dagegen, ihren drei Kindern seine Geschichte nahezubringen. In den 90er Jahren besuchen sie gemeinsam das KZ Buchenwald, wo in Kurt ein Hass aufsteigt, »den niemand mit mir teilen wird, den man mir versagt«.

Harry Tallert starb, als sein Sohn elf Jahre alt war. Sein Erbe an Affekten und nicht artikulierten Emotionen ist das einprägsamste Motiv, die sich durch »Spur und Abweg« zieht. Und so wie es Sohn Kurt gelingt, durch das Studium von Briefen und Transkripten seines Vaters, den über seine Familie im Nationalsozialismus geführten Akten und den Besuch von Konzentrationslagern und Gedenkstätten, sich ein Bild seines Vaters zu machen, verändert sich auch das Bild, das er von sich präsentiert. Zu Beginn von »Spur und Abweg« denkt die Erzählstimme in Punchlines über dasVerhältnis von Shoah, Kolonialismus und Erinnerungskultur nach, am Ende des Texts formuliert sie einen persönlichen Brief an die in Auschwitz ermordete Urgroßmutter. In der Autofiktion von »Spur und Abweg« ist ein Bildungsroman des Herzens versteckt.

Kurt Tallert: »Spur und Abweg«, DuMont, 240 Seiten, 24 Euro
stadtrevue präsentiert: Fr 16.2., King Georg, 21 Uhr