Wer stört denn da beim Lesen? Katy Kirby gibt derzeit keine Interviews

Tiefe Gefühle mit Rissen

Wie persönlich darf es sein? Katy Kirby gibt sich auf ihrem Zweitwerk radikal offen

Man probiert so herum, mit Wörtern und Melodien und wie beides Hand in Hand gehen könnte, bis man plötzlich eine augenöffnende Erkenntnis über die eigene Person hat — so kann’s gehen beim Songwriting. Schließlich kommt der ­eigentliche Inhalt gesungener Wortketten oft erst bei oder nach deren Entstehungsprozess zum Vorschein. Der in Texas geborenen, in Nashville lebenden Singer-Songwriterin Katy Kirby ging’s mit dem Titeltrack ihres zweiten Studioalbums, »Blue Raspberry«, wieder so: Sie experimentierte mit ihren Schreibtechniken, bis da irgendwann diese wundervolle Liebes­ballade/-erklärung war.

An eine Frau. Sich selbst hat Kirby immer als heterosexuell identifiziert, doch irgendwann stellte sie fest, dass der Song wohl mehr ist als eine fiktive Geschichte, von denen zuvor ihr Debütalbum »Cool Dry Place« (2021) geprägt war. Durch das Schreiben von »Blue Raspberry« (der Song, aber auch das ganze Album) lernte sie ihre neuen Gefühle immer besser ­kennen. Und begann kurz danach ihre erste queere Beziehung.

So ultra-persönlich wollte Katy Kirby ihr Zweitwerk eigentlich gar nicht werden lassen, aber so ist das eben bei talentierten Songwritern. Sie verfolgen das, was rauskommt. Also ist »Blue Raspberry« ein nahes und intimes Beziehungsalbum geworden, auf dem die geliebte Andere zwar ­unbekannt bleibt, aber hübsche Kosenamen bekommt. »Alexandria, your pretty head in my lap«, singt Kirby.

Die Songs sind klarer strukturiert, das Album insgesamt auch — ­weil den einzelnen Momenten mehr Raum gelassen wird

Oder an anderer Stelle: »Cubic Zirconia, you’re so pretty when you’re mad«. Doch neben euphorischen Liebesgefühlen (du bist die schönste Meerjungfrau im gesamten Souvenirladen; viel mehr kann ich mir nicht wünschen), werden immer auch Risse deutlich. So geht es im ebenso fetten wie seichten Pop-Highlight »Cubic Zirconia« zwischendurch auch darum, Eifersucht zu erwecken, und in »Party of the Century« — könnte ein ­neuer Wilco-Song sein, wenn der ­Gesang eine Oktave tiefer wär — taucht einer der größten Streitpunkte moderner Paare auf: »You think it’s ethically suspicious to bring someone into a world like this«. Die Liebe ist also da, ganz klar. Die Anspannungen aber auch.

Schon im Opener »Redemption Arc« geht es um falsch gemeinte Entschuldigungen, nicht ernste genommene Streitereien und ebenso lustige wie zu weit gehende Beleidigungen (»It’s just not polite to call me terror incognito«). Der Song schleicht sich langsam in dein Ohr, das klar vernehmbare Klappern der Klavierpedale passt perfekt zur genannten Intimität. Wo Katy Kirbys Debüt »Cool Dry Place«, das sie über einen langen Zeitraum in verschiedenen Home-Studios aufnahm, noch locker und verspielt war (zwischendurch wurde sogar mit Autotune herumexperimentiert), hat »Blue Raspberry« ein kontrollierteres Studioalbum-Feeling. Die Songs an sich sind klarer strukturiert, das Album insgesamt auch — weil den einzelnen Momenten mehr Raum gelassen wird. In »Hand to Hand« wird Kirby anfangs nur noch von flächigen Soundeffekten und einem bauchigen Bass begleitet — auf dem ganzen Album ist dieser Bass sehr prominent, sodass die seichten Balladen immer auch druckvoll klingen —, während sie eine weit ausgedehnte, geradezu Mitski-ähnliche Melodie obendrüber singt. Wenn Katy Kirby eine Filmemacherin wäre, dann wären die Schnitte dieses Mal langsamer und die Kamera für lange Zeiträume auf nur eine Person gerichtet.

Diese Art von talentierter, ­introspektiver Singer-Songwriterin ist in den letzten Jahren zum Hauptbestandteil des US-amerikanischen Indie-Rock geworden. ­Solche Liederschreiberinnen verlassen sich (im Gegensatz zu den Indie-Stars der frühen/ mittleren 2010er Jahre) weniger auf Vibe bzw. Produktion und sind vor ­allem gut darin, genau, Lieder zu schreiben. Mit tollen Melodien, Akkordfolgen und Texten.

In diese Welt, wo Big Thief die hippe Indie-Band sind und Phoebe Bridgers mit Taylor Swift zusammenarbeitet, fügt sich Katy Kirby wunderbar ein — und bringt noch was ganz eigenes mit: Da sie in ­einem streng-religiösen Haushalt und fast ausschließlich mit christlicher Musik aufgewachsen ist, ­waren ihr viele Rock- und Popklassiker lange fremd. Dadurch hat sie einen originellen, völlig reinen Ansatz an Songwriting, der nie diekt auf Referenzen abzuzielen scheint. Sehr angenehm.

Tonträger: Katy Kirby, »Blue Raspberry« (ANTI- Records)