»Die Grausamkeit nimmt kein Ende«

Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland schildert in »Green Border« das Schicksal Geflüchteter im Grenzgebiet zu Belarus. In Polen wurde sie dafür von der Regierung angefeindet

Frau Holland, warum ein Film über die Situation von Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze?

Ausgangspunkt war im August 2021 ein kleines Dorf namens Usnarz Górny, das zum Symbol wurde. Dort saß eine Gruppe von afghanischen Flüchtlingen fest, umgeben von belarussischen Soldaten auf der einen und polnischen Soldaten auf der anderen Seite. Den Menschen wurde der Weg in beide Richtungen versperrt. Zunächst durften Aktivist*innen, Ärzt*innen und Op­­positionspolitiker*innen den Geflüchteten Essen und medizinische Hilfe geben. Nach ein paar Tagen erfolgte der Befehl, dass niemand sich ihnen nähern durfte. Es war so absurd, grausam und unverständlich. Dann verschwanden einige der Migrant*innen, sie waren an einen unbekannten Ort gebracht worden und wurden nie gefunden. Ich wollte einen Film über diesen speziellen Ort machen, aber die Situation es­kalierte. Ich musste einen Ansatz finden, der die Komplexität der Entscheidungen und Schick­sale der Beteiligten zeigt — der Geflüchteten und der Helfer*innen.

Deswegen ein Spielfilm und keine Dokumentation?

Als die Regierung beschloss, eine Sperrzone um das Grenzgebiet einzurichten und den Zugang für Medien, medizinisches Personal und humanitäre Organisationen zu verbieten, gab es nur wenig Informationen über die verheerende Lage im Grenzgebiet. Uns wurde klar, dass wir nicht alles dokumentarisch festhalten und zeigen können und entschieden uns für den Spielfilm. Mit einer Perspektive, die zeigt, wie die Realität für alle Beteiligten ist. Fiktion, aber basierend auf den Fakten, die wir dort sammelten. Manches haben wir eins zu eins nachgestellt.

Wie und wo haben Sie gedreht?

Wir haben nicht im Geheimen gedreht aber sehr diskret. Wir hätten keine Genehmigung für Dreharbeiten am Ort des Geschehens bekommen, also haben wir die Grenze in einem privaten Waldstück bei Warschau nachgestellt, um Probleme mit den Behörden und der Polizei zu vermeiden. Trotzdem bekamen die Medien Wind von der Sache — und wir wurden während der Dreharbeiten von Rechten angegriffen.

Wie haben Sie Ihre Schauspieler*innen ausgewählt?

Die Darsteller*innen, die die Flüchtlinge spielen, sind selbst Geflüchtete. Sie haben das Leid erlebt, das wir mit dem Film vermitteln. Und die polnische Schauspielerin, die die Hauptrolle spielt, ist auch im wahren Leben eine Aktivistin. Sie hat sich immer an vorderster Front für die Flüchtlinge eingesetzt. Die persönlichen Erfahrungen aller sind ein zentraler Aspekt des Films.

Warum haben Sie in Schwarzweiß gedreht?

Ich wollte schon lange einen Film in Schwarzweiß machen. Hier dachte ich, dass ich dem Film einen gewissen dokumentarischen Charakter verleihen könnte, während ich ihm gleichzeitig eine metaphorische Dimension gebe. Und ein Gefühl der Zeitlosigkeit. Es gab aber auch praktische Gründe: Wir haben im Frühling gedreht, und ich hatte Angst, dass plötzlich alles um uns herum grün werden würde.

Für »Green Border« wurden Sie in Polen angegriffen. Der damalige Justizminister Zbigniew Ziobro hat ihn gar mit Nazi-Propaganda verglichen. Hatten Sie damit gerechnet?

Ich hatte damit gerechnet, dass Teile der Presse mich angreifen würden, aber niemals der Premierminister oder der Justizminister. So etwas hat es noch nie gegeben. Aber die Reaktionen haben auch dazu beigetragen, den Film bekannt zu machen. Fast 800.000 Menschen haben ihn in Polen gesehen.

Wurden Sie bedroht?

Ja, wir haben Drohungen erhalten, und die Atmosphäre rund um den Film war sehr aufgeheizt. Man weiß nie, ob nicht irgendein Fanatiker oder Verrückter seinen Worten Taten folgen lässt. Das ist in Polen schon passiert. Ich habe mich zum Zeitpunkt der Premiere des Films in meinem Haus eingeschlossen und Leibwächter engagiert. Das war eine interessante Erfahrung.

Die EU-Staatenreden über Menschenrechte, aber sie ­erlauben den Polen zu tun, was sie tun

Glauben Sie, dass »Green Boder« einen Einfluss auf das Ergebnis der Parlamentswahl im Oktober hatte, bei der die Opposition eine überraschende Mehrheit erreichte?

Das kann man schwer sagen. Aber der Film hat eine große moralische Bewegung ausgelöst. Plötzlich begannen die Menschen, über die Flüchtlingsthematik zu sprechen, die von der offiziellen Propaganda lange vernachlässigt oder manipuliert worden war. Aber ich mache mir keine Illusionen, dass sich grundlegend etwas ändern wird, nur weil wir nun statt von Rechtsnationalen von Liberalkonservativen regiert werden.

Welche Rolle kann das Kino in der öffentlichen Diskussion spielen?

Die Politiker*innen regieren im Moment durch Angst. Und die Menschen reagieren in diesem Sinne. Sie haben das Gefühl, dass wir an einem sehr gefährlichen Ort leben. Ich zeige Dinge, mit denen ich nicht einverstanden bin, aber ich habe auch keine Lösung parat. Wir müssen uns immer wieder fragen, was die Rolle der Kunst und des Kinos ist. Und wir müssen Erzählungen schaffen, die kritisch sind gegenüber dem, was vor sich geht. Aber das ist nicht genug.

Was muss Ihrer Meinung nach politisch getan werden?

Die Europäische Union wird keine Sanktionen verhängen, weil andere Mitglieder das Gleiche wie die Polen tun, nur eben mit weißen Handschuhen. Das ist heuchlerisch. Die EU-Staaten reden über Menschenrechte, aber sie erlauben den Polen zu tun, was sie tun. Sie erlauben die Dinge, die im Mittelmeer vor sich gehen. Die EU steckt den Kopf in den Sand. Sie hofft, dass, wenn sie einen weiteren Diktator bezahlt, wie zum Beispiel Erdogan, das Problem von ihren Außengrenzen ferngehalten wird. Es gibt keine Konferenzen, um die Migrationsprobleme anzugehen. Die Situation wird verdrängt, die Grausamkeit nimmt kein Ende und wird weiterwachsen.

Was wäre also die Lösung? Ziviler Ungehorsam?

Die Menschen lassen sich sehr leicht in Angst versetzen, wie man am Erfolg der Populisten in Europa sieht. Dabei können sich die meisten gar nicht vorstellen, was an den Grenzen passiert. Auch deswegen haben wir den Film gemacht.

Filmvorführung mit Vorabgespräch über die aktuelle Situation an den EU–Außengrenzen