Wissen und Nicht-Wissen inszenieren, Foto: Dorothea Tuch

»Erst wie ich hörte, wie du mich verstehst, wusste ich, was ich gesagt habe«

Beim »Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen« ­bieten Expert*innen im Schein einer Glühlampe ihr Wissen an. Nun ist das Format, irgendwo zwischen Theater und ­Wissenschaft, erstmals in NRW zu Gast

Das Mülheimer Verfahren ist weltweit einzigartig: Nicht aus dem Grundwasser, wie sonst üblich, sondern aus der Ruhr selbst wird Trinkwasser gewonnen. Tagelang durchläuft das dafür abgepumpte Oberflächenwasser des Flusses eine feine, mehrfach gestaffelte Filtrierung, ganz ohne Chlor, bis es aus Brunnengalerien und Sicker­stollen ins Netz zurückgewonnen wird. 1974 wurde das aufwändige, komplizierte Verfahren von Wissenschaftler*innen der Rheinisch-Westfälischen Wasser­werksge­sellschaft entwickelt. Auch sie sind bei der Veranstaltung in der Mülheimer Stadthalle eingeladen, an kleinen Tischen im dämmrigen Schein einer von der Decke hängenden Glühbirne über ihre Arbeit zu berichten — beim »Markt für nützliches ­Wissen und Nicht-Wissen«.

Es ist ein außergewöhnliches Format, das am 3. Februar erstmals in Nordrhein-Westfalen gastiert. Eine »halluzinierte Volkshochschule«, bei der an Einzel­tischen — zwischen sechs und hundert sind es pro Veranstaltung — Expert*innen sitzen, die eingeladen sind, einen Ausschnitt ihres Wissens anzubieten. Das ­Publikum, eher Kund*in oder Klient*in an diesem Abend, hat die Möglichkeit, eine*n Expert*in für eine halbe Stunde zu buchen und sich im Dialog das Wissen und Nicht-Wissen der anderen Person anzueignen — oder zu verwerfen. Wählen kann man dabei zwischen verschiedenen Expert*innen und natürlich auch mehrere Gespräche an einem Abend führen.

»Erst wie ich hörte, wie du mich verstehst, wusste ich, was ich gesagt habe«, lautet das Zitat des österreichichen Schriftstellers und Sprachtheoretikers Oswald Wiener, das über jeden »Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen« als Transparent hängt. Ent­wickelt wurde das Format vor einigen Jahren von der Mobilen Akademie Berlin, einem wechselnden Ensemble aus Vertreter*innen verschiedener Disziplinen, wie Kunst, Architektur und Wissenschaft, das Installationen und Inszenierungen im Dazwischen entwickelt. Seitdem tourt es durch verschiedene europäische Städte, zum Thema Eigentum, digitalen Währungen, Ungerechtigkeit. Zuletzt fand es kurz vor Weihnachten 2023 in Mailand statt. Und nun in Mülheim an der Ruhr, das Thema dort: der Fluss.

Ursprünglich war das Theater ein Ort des öffentlichen De­bat­tierens — das will man mit dem »Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen« wieder aufleben lassen

»Während der Pandemie hat der Ringlockschuppen verschiedene Menschen aus der Stadt nach ihrem Lieblingsort gefragt, die meisten haben irgendeinen Platz in der Nähe oder unmittelbar am Fluss selbst genannt«, erinnert sich Kurator Jonas Leifert. So seien seine Kollegin Anna Bründl und er auf das Thema gekommen, das lokal klar verortet sei, wie er sagt, aber eben auch eine überregionale Relevanz habe. »Wir fanden den Fluss als Thema spannend, weil er eine starke metaphorische Bedeutung hat. Er steht für die Transformation in der Region, aber auch als Verbindung zum Meer, zur großen weiten Welt.« Gerade in der migrantischen Literatur werde der Fluss häufig als Sehnsuchtsort stilisiert, an dem man sich an die alte Heimat erinnert. Als Begriff kehre er aber auch in den sogenannten »Flüchtlingsströmen« oder »Verkehrsflüssen« wieder. »Manche Themen sind im Verlauf unserer Recherche nach Expert*innen ein bisschen untergegangen, aber der Fluss kommt bei der Veranstaltung weiterhin in vielfältiger Weise vor, zum Beispiel in Bezug auf Körperflüssigkeiten und den Blutkreislauf,« sagt Jonas Leifert.

Vielfach gelobt wurde das Format in den vergangenen Jahren, unter anderem von dem Sozio­logen Dirk Baecker, der im Magazin Theater der Zeit kommentiert, der »Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen« würde jenseits klassischer Repräsentations­logiken des Theaters eine Wissensökonomie inszenieren, die kritisch beobachtet, wie in einer Gesellschaft Wissen kommunikativ erzeugt und verarbeitet wird.
Der »Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen« spielt mit die­sem Aspekt, indem die Mobile Aka­demie ihn als Lesesaal oder Archiv inszeniert, in dem ganz analog, ohne an Datenbanken ­delegierte Gedächtnisse, ständig Assoziationen produziert werden. Die Verbindung von Wissenschaft und Theater ist relativ neu, viele Beispiele für die Verschränkung lassen sich im deutschsprachigen Raum noch nicht finden. Dabei war das Theater ursprünglich sehr wohl ein Ort des öffentlichen Debattierens — und gerade das will man mit dem »Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen« ­wieder aufleben lassen.

In Mülheim an der Ruhr werden verschiedene Expert*innen anwesend sein, etwa die österreichische Schriftstellerin Katrin Röggla und der Autor und ehemalige FAZ-­Redakteur Andreas Rossmann, der in seinem Buch »Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr« über Transformationen im Ruhrgebiet geschrieben hat. Stadtentwickler*innen aus dem Ruhrgebiet werden kommen, und Mitglieder der Emschergenossenschaft, die sich mit der Renaturierung der Emscher, dem das Ruhrgebiet ­eigentlich prägenden Fluss, beschäftigen und dabei besonders mit einem kleinen Fisch, der über 150 Jahre lang im Zulauf überlebte, während der Rest des Gewässers tot war. Dramaturg und Regisseur Frank Raddatz, der zuletzt für sein Hörspiel »Die Konferenz der Flüsse« in Deutschlandfunk Kultur ausgezeichnet wurde, wird da sein: Was würden die Flüsse der Welt uns sagen, wenn sie sprechen könnten? Außerdem Jabbar Abdullah, Autor und Archäologe, der in seiner autobiografischen Erzählung »Raqqa am Rhein« über seine Kindheit in Syrien und seine Flucht schreibt.

Wer an der Veranstaltung ­teilnehmen möchte, braucht sich vorab nicht anzumelden. Ab 19 Uhr öffnet die Stadthalle in Mülheim, eine Stunde später startet die erste Gesprächsrunde. »Es wird dort Check-in-Counter geben, wo man ein Gespräch für einen Euro buchen kann. Wenn mal eines aus­gebucht ist, beraten nette Menschen, welcher Expert­*innen-Tisch alternativ in Frage käme«, erzählt Kurator Jonas Leifert. Dann gibt es ja auch noch das Radioprogramm, das auf acht Kanälen acht Gespräche live überträgt, denen man zuhören kann. An dem Format fasziniert Leifert vor allem der kommunikative ­Aspekt. »Man kann den Abend nicht in einer Gruppe verbringen, aber trifft ja immer wieder Menschen, die gerade aus anderen ­Gesprächen kommen«, sagt er. ­»Es entsteht eine ganz merkwürdige Form von gemeinschaftlichem Wissen, auch wegen
des ­Gemurmels in jeder Pause, wenn sich die Besucher*innen über ihre letzten Gespräche austauschen.« 

Sa 3.2., Stadthalle Mülheim an der Ruhr, 19–23 Uhr