Blick nach vorn, nostalgisch: Thomas Empl, Foto: Charlotte Wulff

Dialektische Nostalgie

Thomas Empls Erzählungen leben von absurden Konstellationen

Schlammige Wiesen vor einem Kraftwerksblock, auf denen ausgestopft wirkende Pferde grasen könnten, gibt es dann doch nicht an der Haltestelle Fordwerke Nord. Aber auf dem Weg hierher waren die Zäune der Fordwerke stacheldrahtverstärkt wie in Thomas Empls Erzählung »Am Horizont: Leverkusen«, als wollten sie einen literarischen Realismus beglaubigen. Wir sind nicht mit dem Rad gekommen, anders als die Protagonistin Pernille. Die radelt in einer Zeit, in der man Trinkwasser in Kanistern erhält, für Netz-Empfang seltene Starlink-Antennen ergattern muss und sich an das Digital-Dating der eigenen ­Eltern zurückerinnert, für einen Tauschhandel zu den stillgelegten Fordwerken , wo sich kommunenartig lebende Besetzer*innen in den Wagen eingerichtet haben.

Zu Fuß gehen wir an einem zugigen Dezembertag über die Schienen auf das Werksgelände zu, Thomas Empl im ziegelfarbenen Parka, mit einer grauen Mütze auf dem Kopf und einem Rucksack über den Schultern.
»Wolfgang Herrndorf hat geschrieben: Ich erfinde nichts. Ich sammle, ich ordne, ich lasse weg«, erzählt der in München geborene Schriftsteller und Drehbuchautor, der seit sechs Jahren in Köln lebt und im vergangenen Jahr mit dem Dieter-Wellerhoff-Stipendium ausgezeichnet wurde. Die absurden Konstellationen mit ihren teils dystopischen Nuancen, die skurrilen Einfälle in seinem zweiten Erzählband »Inneres Zittern«, das habe er alles so erlebt oder ­gesehen, höchstens leicht verschoben, sich nie ausgedacht. Die Mikroplastikpartikel des bunten Regens, der in der Erzählung »Klettenberg Plastic Rain« fällt, »die habe ich wirklich gesehen am Fenster, als es regnete und gleichzeitig die Sonne schien, da sah der Regen bunt aus.«

Die narrativen Bögen sind ­weiter gespannt als in Empls ­Debütband »Ausbruch« von 2021, der, wie auch das neue Buch, im Kölner Verlag Parasitenpresse ­erschien. Die Erzählungen sind angesiedelt in Köln, Tokio, Hongkong, in Italien und den USA.  Manche Geschichten sind mehrperspektivisch erzählt und im Fall von »Der mediokre Drache« in den 80er Jahren verortet, in denen Thomas Empl noch nicht geboren war. Das Politische zieht wie ein feiner Nebel auf in diesen Erzählungen. Dorés Treppenhaus in »Klettenberg Plastic Rain« ist von Paketen übersät, die nicht voneinander unterscheidbare Paketboten mit »elektronischem Schluckauf«, ihren Scannern, verteilen. In »Das dunkle badische Herz«, das autofiktional augenzwinkernd von der Abreise eines Drehbuchautors von einem Filmfestival erzählt, und »Der mediokre Drache« dominieren Konkurrenz und Prekarität die Kulturindustrie. Eine Militärbasis, die den Band in der Erzählung »Überwachtes Gebiet« eröffnet. Schranken und Pförtnerhäuschen, vor denen die Bewegungsfreiheit der Einzelnen endet und die es auch bei Ford gibt.

Industrieschlote strecken sich zu den dichten grauen Wolkenbändern zwischen Niehl und Merkenich. An hunderten Autos vorbei sind wir über das Werksgelände gezogen, wo es öffentlich zugänglich ist. Auf einer Produktionshalle am Rheinufer, als wir Thomas Empls mitgebrachten Kaffee aus Espresso-Tassen trinken, wehen eine deutsche und eine US-Flagge, zwischen ihnen eine ukrainische, »die gab es noch nicht, als ich damals für die Geschichte hier war«. Damals, das ist im inneren Wörterbuch von Thomas Empls Figuren ein vielfach nachgeschlagenes Stichwort.

»Ich halte das für etwas sehr Zeitgenössisches, diesen Blick zurück in die Nullerjahre. Wie wir heute darauf schauen, wie explizit in »Happy Tree Friends« Gewalt dargestellt wurde, wie man damals über den Alkoholismus einer Britney Spears gesprochen hat, welche Witze man sich erzählt hat.«
»Man glorifiziert, was eigentlich Gewalt ist.«

»Was mich andererseits auch fasziniert. Nicht, dass ich es gut fände, aber das Grelle, das Überbelichtete dieser ultimativen Redefreiheit, Meinungsfreiheit, zieht mich auch an. Also Meinungsfreiheit«, Thomas Empl blickt in die Ferne zum Leverkusener Chempark, »komplexer Begriff natürlich. Und zu Pernille: Der traue
ich nicht. Die widerspricht sich selbst dauernd. Zum Beispiel, wenn sie sagt, dass das Digitale ­etwas zunichte macht.« »Hat das Nostalgische etwas Aufrichtendes?« »Es kann sozusagen eine Rekontextualisierung leisten. Ein Buch wieder lesen, einen Film wieder anschauen. Aber ich will sicher nicht zurück in die Vergangenheit.«

Nostalgischer Weltschmerz trägt in »Inneres Zittern« immer schon die eigene Fragwürdigkeit in sich, und an diesem Punkt ­stehen die Figuren auf und übernehmen Verantwortung für sich selbst, für ihre Melancholie, für das Bestehen in der Einsamkeit und in prekären Arbeitsverhältnissen. Den Blick vom Rückspiegel wieder auf die Straße vor der Motorhaube reißen.

Das Politische zieht in diesen Erzählungen auf wie ein feiner Nebel

Joseph, oder Jay, wie der ­Bayer in den USA meistens nur genannt wird, liest und spielt in der Erzählung »O« Audio-Pornografie in ­heruntergekommenen Motels ein. An einem Swimming-Pool kommen die Bilder sexualisierter Übergriffigkeiten zurück, denen er ausgesetzt war, aber sofort setzt eine gegenläufige Bewegung ein. Nichts verknüpfte doch die erinnerten Momente, die ihn beim ­Betrachten des Schwimmers befallen hatten, mit seinem Jetzt, gar nichts, das Jetzt war Folge eigener Entscheidungen, und über eigene Entscheidungen gab es nichts zu jammern. Am Ende gelingt Joseph endlich die Annäherung an die Buchhändlerin, die seine Streams verfolgt.

Doré sinniert in einer nächtlichen Seitenstraße zwischen Sülz und Klettenberg darüber, wie
man sich dreißigjährig die theatralischen Trotzgesten der einstigen Zwanzigjährigen erzählt, ­denen eine Frau ein Kaffee-Date verwehrt, sich aneinander vorbei Nostalgie einredend. Damit muss Schluss sein jetzt, dachte er. Doré geht weiter, und an der Kneipentür des Stauss hört man den Sound, den Thomas Empl herzustellen weiß. »Dein Schnörres riecht nach Bier«, sagte Rita, drückte ihre glitzernde Wange an ihn, »kommst von Lidia?« »Bin auf dem Heimweg«, sagte er. »Noch weit?«, fragte sie. Doré: »Das Problem ist nicht der Weg, sondern dass ich irgendwann ankomme.« Rita: »Tür zu erstmal.«

Beim Smalltalk per Textnachricht, vor unserem Treffen, hat sich Thomas Empl als einer erwiesen, der weiß, dass die Post letztes Jahr ihren Telegramm-Service ­eingestellt hat. In einem Café am Ebertplatz, zum Aufwärmen zurück von den Fordwerken, bestellt er schwarzen Kaffee. Zwei Tage später schreibt er auf eine Nachfrage zu »Am Horizont: Leverkusen«, nicht per Post, nicht in einer Whatsapp-Nachricht, sondern in einer SMS: »Ein Kraftwerk ist da ­irgendwo, das erinnere ich sicher, Pferde weiß ich nicht mehr.«

Thomas Empl: »Inneres Zittern«, ­parasitenpresse, 122 Seiten, 14 Euro