Schreiben ohne Bitterkeit: Joanna Bator, Foto: Magda Hückel

Das Leben im Nacken, den Zorn auf der Zunge

Joanna Bator erzählt in »Bitternis« die Geschichte einer Familie, in der Männer nur Randfiguren sind

»Gorzko« (bitter) ruft nach polnischem Brauch die Hochzeitsgesellschaft dem Brautpaar zu, um mit einem Kuss jede Bitterkeit ­abzuwenden. Um eine Trauung geht es in Joanna Bators Roman »Bitternis«, dessen Originaltitel an das Hochzeitsritual angelehnt ist, trotzdem nicht. Stattdessen erzählt die polnische Autorin in ihrem über 800 Seiten starken Provinzepos eine Familiengeschichte, in der männliche Akteure nur am Rande vorkommen: Sie verschwinden, sterben oder sind einfach nicht präsent. »Die Geschichte meiner Familie ist durchsetzt mit männerförmigen Löchern«, schreibt die Ich-Erzählerin Kalina. Bators Erzählung ist ein grandioser Generationenroman über vier Frauen, die ein Jahrhundert voller Grausamkeit erleben.

Sokołowsko heißt das niederschlesische Dorf, in dem die Schicksale der Frauen zusammenlaufen. Hier hat Kalina ein Haus gekauft, in dem sich vor 100 Jahren eine Tragödie ereignet haben soll. Schreibend versucht sie dort, den Spuren ihrer weiblichen Vorfahren zu folgen. Erzählt wird nicht chronologisch, ­sondern aus den wechselnden ­Perspektiven der Frauen.

Die Geschichte beginnt 1920 mit Kalinas Urgroßmutter Berta, die nach dem Tod der Mutter vom Vater großgezogen wird, einem Metzgermeister und glühenden Hitler-Anhänger. Als sie 1939 selbst eine Tochter zur Welt bringt und noch im Kindbett stirbt, befindet sich Berta im ­Gefängnis. Warum sie inhaftiert wurde, ist eines der düsteren ­Familiengeheimnisse, die Bator im Laufe der Erzählung enthüllt. Dass auch Bertas Tochter Barbara eine Zeit lang im Gefängnis saß, macht die Geschichte umso tra­gischer. Zwar führt Barbara gegenwärtig ein scheinbar unaufgeregtes Leben, doch ist beiden, ihr und ihrer Mutter, in der Vergangenheit Gewalt widerfahren.

Um die Enkelin vor einer ­ähnlichen Tragödie zu bewahren, nimmt Barbara Kalina bei sich auf. Denn Kalinas Mutter Violetta ist eine »wenig mütterliche Mutter«, »die vor lauter Widerwillen ständig Bitternis im Mund hatte«. Zwar möchte Violetta modern und emanzipiert wirken, doch gleichen die seltenen Besuche bei ihrer Tochter eher missglückten Auftritten. Die Komik, die die Schicksale dieser eigenwilligen Frauen­figuren begleitet, macht Bators Familiensaga bis zur letzten Seite zu einem uneingeschränkten ­Lesevergnügen.

Joanna Bator: »Bitternis«, Suhrkamp, 829 Seiten, 34 Euro