Das Deutschland der Deutschen: Sommer vorm Zaun

The Zone of Interest

Jonathan Glazer wirft einen forensischen Blick auf den Alltag des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß

Wer Filme über Konzentrationslager macht, sollte eine angemessene Distanz wahren. Der Regisseur Gillo Pontecorvo wahrte sie nicht. 1960 wurde sein Film »Kapo« — die Geschichte einer deportierten Pariser Jüdin — von Jacques Rivette in den Cahiers du Cinema regelrecht zerfetzt. »Sehen Sie sich die Einstellung an, in der Emmanuelle Riva sich in den elektrischen Stacheldraht stürzt«, schrieb Rivette. »Der Mann, der in diesem Moment eine Kamerafahrt nach vorne macht, um die Leiche in einer Untersicht zu zeigen, wobei er darauf achtet, die erhobene Hand genau in einem Winkel seines endgültigen Bildausschnitts einzufangen — für diesen Menschen kann man nur tiefste Verachtung empfinden.«

Als Worst-Case-Szenario inszenatorischer Geschmacklosigkeit gelangte die Kamerafahrt aus »Kapo« zu trauriger Berühmtheit. Später stritt Michael Haneke mit Steven Spielberg über die emotionalisierenden Gaskammer-Szenen in »Schindlers Liste«, während Claude Lanzmann, Regisseur von »Shoah« und so etwas wie die moralische Instanz einer angemessenen filmischen Erinnerungspolitik, Kollegen mal Antisemitismus vorwarf (Jean-Luc Godard), mal seine Bewunderung aussprach (László Nemes). Die Fragen der hitzig geführten Debatte lauteten: Ist der Holocaust visualisierbar? Kann ein Film das Unerträgliche mit den Mitteln des Erzählkinos zeigen, ohne den Genozid dabei unweigerlich zu normalisieren?

Jonathan Glazer dürfte diese Fragen kennen. »The Zone of Interest«, eine lose Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Amis, kommt ohne Schockbilder aus und zeigt stattdessen den Alltag von Rudolf und Hedwig Höß: Sie (Sandra Hüller) kümmert sich ums Eigenheim. Er (Christian Friedel) arbeitet an seiner Karriere. Gemeinsam machen sie Ausflüge, führen Beziehungsgespräche, streiten und vertragen sich wieder. Glazer zeigt den Kommandanten von Auschwitz und seine Frau nicht als Monster. Gleichzeitig vermeidet er Identifikationsangebote, wo sie unangebracht wären. Statt auf psychologische Tiefenzeichnung setzt »The Zone of Interest« auf eine anthropologische Studie. Der forensische Blick einer Überwachungskamera sei sein Ziel gewesen, so Glazer, ein »Big Brother in the Nazi house«.

Kann ein Film das ­Unerträgliche mit den Mitteln des Erzählkinos zeigen?

Die Opfer hingegen bleiben an den Rändern des Sichtbaren, hinter den Mauern, die den prächtigen Garten der Familie Höß umzäunen. Ihr Leid können wir nur erahnen dank eines ambitionierten Sounddesigns und subtiler Hinweise, die im Laufe des Films immer konkreter werden. Diese Dramaturgie überhöht das Nicht-Sichtbare und macht es bald zur eigentlichen »Zone unseres Interesses«. Nicht den Täter*innen soll unsere Aufmerksamkeit also gelten, sondern dem Fehlen von Bildern. Glazer weiß, dass es aus dem Inneren der Konzentrationslager keine fotografischen Quellen gibt — außer den vier Fotos, die Mitglieder des »Sonderkommandos« 1944 heimlich in Auschwitz machten –, sehr wohl aber Zeitzeugenberichte und Bilder ihrer Befreiung. Seine konzeptionelle Setzung ist eine Herausforderung an uns, selbst Bilder zu finden.

Das ist hochinteressant und zeitigt doch ambivalente Wirkungen. »The Zone of Interest« ist wie ein Meta-Film über Filme zum Holocaust, im Zwiespalt zwischen der Suche nach Bildern und dem Bewusstsein, dass diese nicht auffindbar sind. Er zeigt die Vergangenheit als das, was sie ist: bruchstückhaft und schwer zu verstehen. Doch erzeugen die Spuren der Gewalt — Schreie aus dem Off, Zähne im Hößschen Kinderzimmer, blutige Uniformen — wirklich jenes Gefühl von Unfassbarkeit, das, so Jacques Rivette in seinem »Kapo«-Verriss, den Anfang jeder Auseinandersetzung mit dem Holocaust darstellt? Sind sie dafür nicht zu konsumierbar, zu sehr als Konventionen eines Horrorfilms bekannt, in dem man schaudernd auf das Monster wartet?

Im Finale überwältigt den frisch beförderten Rudolf ein Würgekrampf — ähnlich wie den Massenmörder in Oppenheimers »The Act of Killing«. Glazer schneidet vom würgenden Kommandanten zu dokumentarischen Aufnahmen aus der Jetztzeit: Unvermittelt sehen wir die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, in der Putzkräfte Vitrinen voller Schuhe der Ermordeten reinigen. Der Berg von Schuhen, er bleibt für uns das Menschlichste, was wir von den NS-Opfern zu sehen bekommen.

USA/GB/PL 2023, R: Jonathan Glazer
D: Christian Friedel, Sandra Hüller, Johann Karthaus
105 Min., Start: 29.2.