Poll

Wer kennt eigentlich Poll? Für viele hört Köln ja spätestens hinter Deutz schon auf. Bekannt ist der Stadtteil den meisten bloß wegen der Poller Wiesen — doch die gehören gar nicht zu Poll, sondern zu Deutz. Warum das so ist, das haben wir neben vielem anderen bei unseren Recherchen, Gesprächen und Spaziergängen im Veedel erfahren. Früher war Poll ein typisches Rheindorf, geprägt vom Fischfang und der Landwirtschaft, dann kam die Eingemeindung nach Köln und vieles änderte sich. Heute ist Poll eine wilde Mischung von kleinen Siedlungen, alten Gassen, neuen Gewerbegebieten und Brachen, die unser Fotograf Thomas Schäkel ins Bild gesetzt hat. In Poll hält sogar ein Bauer noch Schweine ­mitten im Veedel, richten sich Künstler in Lagerhallen ein, und hier trifft sich auch die Raser-Szene. Porträt eines Viertels, das viele Überraschungen bereithält.

Der Bürgermeister von Poll

Hans Burgwinkel ist Heimatforscher und ein wandelndes Stadtteil-Archiv

Wo Hans Burgwinkel wohnt, ahnt man schon von weitem. Die Fassade des Hauses, in dem er mit seiner Partnerin lebt, hat der Heimatforscher mit Infotafeln geschmückt. Auch im kleinen Garten hängen Pläne zur Lokalgeschichte. Im Haus selbst stapeln sich Unterlagen, Fotos, aber auch Gegenstände, die die Poller Geschichte veranschaulichen — all das hat Hans Burgwinkel über viele Jahre zusammengetragen. Jeder in Poll kennt ihn, manche nennen ihn den »Bürgermeister von Poll«. Politische Ämter bekleidet er keine, aber wenn in Poll etwas passiert, dann ist er meist dabei, oder man sucht seinen Rat. Er ist das Poller Stadtteilarchiv. Noch während er in der Küche den Kaffee aufsetzt, springt er schon von einem Thema zum nächsten. Immer wieder hat er mit Zeitzeugen gesprochen, in Archiven gewühlt, Fund­stücke gesichtet.

Wie kam das alles? »Tja«, sagt Burgwinkel, macht eine Pause und erzählt dann, wie er 1984 einen schweren Autounfall hatte, den er »nur mit mindestens fünf Schutzengeln überlebt« habe. Als er aus dem Koma erwachte, habe er beschlossen, zum Dank eine Kapelle zu errichten. »Aber dann dachte ich: Warum eine Kapelle? Besser, ich engagiere mich.« Burgwinkel trat in die CDU ein (und später wieder aus), nahm am Poller Vereinsleben teil und sorgte Anfang der 90er Jahre auch dafür, dass auf dem Poller Marktplatz zum 1. Mai wieder ein Maibaum aufgestellt wird. Das Maifest ist heute das größte Fest im Veedel, seit das Schützenfest aufgegeben wurde, weil der Schützenverein sich aufgelöst hatte.

Burgwinkels Opus magnum aber ist das »Poller Heimatmuseum«. So nannten die Poller schon vor hundert Jahren das Gasthaus Zum Jägerhof, sagt Burgwinkel, weil der Besitzer Kunst- und Alltagsgegenstände sammelte. Die Nachfahren zeigten sie Burgwinkel — und auch den Tiefkeller, wo er zerbrochene, seit dem Zweiten Weltkrieg verschollene Fenster des Kölner Glasmalers Ludwig Preckel (1881–1938) wiederentdeckte, die den damaligen Alltag in Poll darstellen. Burgwinkel lässt sie derzeit aufwändig restaurieren, einige liegen gut verpackt in seinem Haus. »Vorsicht, nicht drauftreten«, sagt Burgwinkel, und erläutert die Darstellungen — sein Kaffee ist schon kalt geworden, er hat so viel zu erzählen.

Alle in Poll fühlen sich traditionell nach Deutz hingezogen, keiner will was mit Porz zu tun habenHans Burgwinkel

Die restaurierten Fenster sollen in Burgwinkels neuem Poller Heimatmuseum gezeigt werden, das es lange nur als Internetseite gab, seit 2015 aber endlich eine ständige Ausstellung ist — im Cologne Sportspark, in einem kleinen Gewerbegebiet in Westhoven. Zur Eröffnung hielten Politiker Lobreden auf Burgwinkel. Und auch, wenn er es selbst nie ausspricht, drängt sich der Gedanke auf, dass Burgwinkels stadthistorische Projekte mehr Unterstützung verdient hätten — von der Stadt, aber auch von Pollern. Wenn Burgwinkel »wir« sagt, dann aus Respekt vor denen, die ihn unterstützen. Doch hauptsächlich ist es Burgwinkel allein, der das auf die Beine stellt. Könnte er überhaupt loslassen? »Ja, klar!«, kommt es schnell und etwas lauter zur Antwort. »Ich suche ja Nachfolger! Aber immer, wenn Leute helfen wollen, kommt ihnen was dazwischen«, sagt er lakonisch.
Aber hat es nicht auch mit Poll zu tun? Einem Stadtteil mit überdurchschnittlich alter Bevölkerung, jenseits der Innenstadt? »Das ist hier schon anders als in Ehrenfeld, da reißen sich die jungen Leute ja fast darum, etwas auf die Beine zu stellen«, sagt Burgwinkel, der Ehrenfeld gut kennt. »In Poll geht es nicht so locker zu. Wir haben auch nur noch drei, vier Kneipen, wo man sich trifft.«

Ein Thema aber, das hier derzeit alle beschäftigt, ob jung oder alt, ist der Tornado, der kurz vor Weihnachten durchs Veedel tobte, Dächer abdeckte, Bäume entwurzelte und wie durch ein Wunder niemanden verletzte. Burgwinkel saß gegen acht Uhr abends in der Küche, als er »ein Geräusch, als wenn ein Düsenflugzeug im Garten starten würde« hörte. »Danach war alles totenstill.« Der Tornado hat das Haus von Burgwinkel weitgehend verschont, trotzdem hat er Folgen: Jetzt muss sich Burgwinkel auch noch um die Dokumentation des Ereignisses kümmern.

Überhaupt kommt er kaum hinterher, all sein Wissen und seine Rechercheergebnisse zu präsentieren. Entlang des Rheinufers hat Burgwinkel Infotafeln aufgestellt. Rund 120 Orte in und um Poll sind darauf bislang verzeichnet: etwa der Standort des ehemaligen Weidenhäuschens am Rheinufer, wo ein Wächter wohnte, der die Weiden bewachte; der Ort, wo ein Dampfer 1885 havarierte; das Deutzer Werth, eine ehemalige Insel im Rhein; oder auch die Stelle, wo einst die Poller Windmühle stand, die sich sogar im Hintergrund eines Gemäldes von William Turner findet.

Früher hörte Poll erst an der Drehbrücke auf. Deshalb heißt das Ufer dort heute noch Poller Wiesen, obwohl sie längst zu Deutz gehören. Das kam durch die Eingemeindung 1888, als Poll zu Köln kam, aber ein Teil seines Gebiets an Deutz fiel. Der Bezirksbürgermeister der Innenstadt, Andreas Hupke von den Grünen, wollte die Poller Wiesen 2021 schon in »Deutzer Wiesen« umbenennen, scheiterte damit aber. »Ich kenne den Andreas gut, wir sind per du«, sagt Burgwinkel. »Da hab ich etwas Wirbel gemacht — das Thema ist erledigt.«

Insgesamt sei das Verhältnis zu Deutz aber gut, sagt Burgwinkel. Man orientiere sich Richtung Innenstadt. Da wiegt es umso schwerer, dass Poll 1975 dem neuen Stadtbezirk Porz zugeschlagen wurde. »Da ärgere ich mich heute noch«, sagt Burgwinkel. »Alle hier fühlen sich traditionell nach Deutz hingezogen — keiner will was mit Porz zu tun haben«, sagt Burgwinkel und lacht.

Das ist hier schon anders als in Ehrenfeld...Hans Burgwinkel

»So, jetzt fahren wir aber mal durch Poll«, sagt Burgwinkel dann. Es geht mit dem Auto durch Poll, Burgwinkel ist nicht gut zu Fuß, aber er sprüht vor Energie, wenn er die kleine Stadtteilrundfahrt improvisiert.  
Den alten Dorfkern bildeten früher die Poller Hauptstraße, die Weingartengasse und die Müllergasse, die früher Mühlengasse hieß. Und natürlich geht es durch die Maifischgasse — benannt nach jener Heringsart, für die Poll bis vor hundert Jahren berühmt war. Die Fische wurden hier gefangen und in Köln verkauft. Die Tradition hat Burgwinkel beim Maifest wieder aufleben lassen. Unter anderem ist es auch ihm zu verdanken, dass ein EU-Programm zur Wiederansiedlung des Fisches aufgelegt wurde, am Oberrhein wurden schon wieder Bestände registriert, erzählt Burgwinkel. Der Maifisch findet sich sogar in einem Wappen, das Burgwinkel entdeckt und mit Hilfe eines Heraldikers rekonstruiert hat. Burgwinkel hat Aufkleber davon anfertigen lassen. »Hier, der ist für Sie.«

Im alten Ortskern steht noch das ehemalige Haus der jüdischen Familie Marx. »In der Reichspogromnacht ist die HJ durch Poll gezogen und hat jüdische Geschäfte zertrümmert. Auch ins Haus der Familie Marx sind sie eingedrungen und haben einen Puppenwagen aus dem Fenster geschmissen«, erzählt Burgwinkel.

Das Poller Fischerhaus gegenüber dem Campingplatz ist ein beliebtes Ausflugsziel. Das war auch vor hundert Jahren schon so. Das alte Fischerhaus stand aber näher am Rhein. »Das hatte einen eigenen Anlegesteg und 500 Außenplätze«, erzählt Burgwinkel. »Da fuhr die Kölner Prominenz mit Kutschen vor. Darunter auch viele Mitbürger jüdischen Glaubens, das Essen war koscher — die Nazis haben das Restaurant dann abreißen lassen.« Burgwinkel hat viel zur jüdischen Geschichte geforscht. Die Umfragewerte der AfD bereiten ihm Sorgen. Ja, er kenne auch Leute, die AfD wählen.

Weiter geht es durch Poll. Es sind nicht nur historische Orte, es geht auch zur Hochhaussiedlung In der Kreuzau. »Kein sozialer Brennpunkt«, wie Burgwinkel betont. »Sehen Sie das Fenster im zwölften Stock? Das mit Holz verkleidet ist — da ist der Tornado durchgegangen.« Es geht auch noch zum Hof von Bauer Kleinschmidt an der Straße Auf dem Sandberg, wo schon eine Infotafel zum Tornado hängt — aber zu dem von 1898, die Tafel hat Burgwinkel schon vor Jahren angebracht.   

Wieder zu Hause, führt Burgwinkel noch durchs Haus. Es war ein langer Tag. Aber dass Burgwinkel sich jetzt ausruht, kann man sich kaum vorstellen. Er hat noch Termine, sagt er. 

Bernd Wilberg

 

Reihenhaus und Brache

Petra Schreiner und Jan Hertel zeigen, was in Poll noch alles möglich ist

Poll ist ein Veedel der Reihenhäuser. Auch Petra Schreiner und Jan Hertel aus der Siedlung an der Laurenz-Kiesgen-Straße wohnen in einem. Die Künstlerin und der Architekt zogen vor zwölf Jahren von Deutz nach Poll. Ihr Sohn war noch klein, und sie freuten sich, mehr Platz und einen Garten zu haben. Anfang der 60er Jahre errichtet, liegen die Reihenhäuser an kleinen Stichstraßen. Vor die Häuser wurden Garagen gesetzt, die das Straßenbild nun prägen. »Man sieht deutlich, dass das Auto hier eine große Rolle spielt«, sagt Jan Hertel. Moderne Autos aber passen in die Garagen kaum hinein. »Die Garagen werden inzwischen meist anders genutzt«, sagt Hertel. Viele Autos parken nun davor.

Weniger Blech und Beton, mehr Grün — das wäre doch schön, fand das Ehepaar. Nach einem Straßenfest gründeten sie mit Gleichgesinnten die Initiative »Von Grau zu Grün«. Deren Pläne, die Straße zu begrünen und Bäume zu pflanzen, wurden 2022 beim Landeswettbewerb »Zukunft Stadtraum« prämiert. Bauministerin Ina Scharrenbach persönlich kam nach Poll, um die Urkunde zu überreichen. Das Ministerium wollte die Umbaukosten sogar zu 80 Prozent fördern lassen. Doch die Kölner Ämter hatten keine Zeit für das Projekt, das nun auf Eis liegt.

Bauten der 60er und 70er Jahre, ähnlich denen in der Laurenz-Kiesgen-Straße, dominieren auch im restlichen Poll. Westlich der Siegburger Straße, rund um das frühere Fischerdorf, stößt man zuweilen noch auf alte Bauernhäuser, und immer wieder ragen unvermittelt Hochhäuser empor. »Poll ist nicht gesegnet mit großartiger Architektur. Alles ist sehr kleinteilig und zerfleddert«, sagt ­Hertel. »Das ist im Zuge der Industrialisierung einfach irgendwie gewachsen.« Doch wenn man mit Jan Hertel und Petra Schreiner durch Poll spaziert, mäkeln sie nicht herum, sondern sprudeln nur so vor Ideen: Die stillgelegte Eisenbahntrasse zum Beispiel, die vom Deutzer Hafen über die Siegburger Straße Richtung Kalk führt, könne man mit einem Obstbaum-Spazierweg säumen. Oder der Marktplatz: »Recht chaotisch gestaltet«, urteilt Hertel, um dann zu schwärmen, welch tolle Aufgabe der Platz für einen derzeit laufenden Wettbewerb von Architekturstudenten darstellt. »Achtung, es ist nicht sehr fußgängerfreundlich hier!«, ruft er, als er die Siegburger Straße überquert. Petra Schreiner zeigt auf die Baustelle, wo der Neubau mit Wohnungen und einem Rewe entsteht. »Da freuen sich alle drauf«, sagt sie. Einen Rewe nämlich — man kann es als Nippeser oder Ehrenfelder kaum glauben — gibt es in Poll bislang nicht.

Stattdessen findet man alteingesessene Geschäfte wie eine Zoohandlung (»Die Poller mögen Haustiere«), aber auch neue, wie einen Plattenladen. Für das Ehepaar ein Zeichen, dass Poll sich verändert. »Die Baustruktur ist in die Jahre gekommen, einiges steht leer. Da entstehen jetzt kreativere Sachen«, sagt Jan Hertel. »Was in den 80ern in der Südstadt oder in den 90ern in Ehrenfeld war, wird in Bezirke wie Poll abgedrängt, weil es hier noch Raum dafür gibt.« Raum gibt es auch an der Straße Auf dem Sandberg, gegenüber vom Hof des Bauern Kleinschmidt. Hier liegt ein Gemeinschaftsgarten, in dem auch Schreiner und Hertel eine Parzelle beackern. Die Fläche stellt die Stadt zur Verfügung. Gebaut werden darf hier nicht — wegen der Schweine, die Bauer Kleinschmidt auf dem Hof gegenüber hält, heißt es. Für die Poller Gärtner ist das ein Glücksfall, und der Bauer versorgt sie mit Wasser, weil es im Garten keinen Brunnen gibt.

Poll ist nicht ­gesegnet mit ­großartiger Architektur. Alles ist sehr kleinteilig und ­zerfleddertJan Hertel

Vieles sei gerade im Entstehen begriffen, sagt Petra Schreiner. Rund um den Garagenflohmarkt, den Anwohner seit einigen Jahren organisieren, finden nun auch Nachbarschaftstage statt. Anstelle von Trödel bieten Poller dann ihr »Wissen und Können« an. Es gebe Initiativen, den Verkehr im Viertel zu beruhigen, oder einen Philosophie-Kreis, der sich im Atelierhaus Quartier Am Hafen trifft. Auch die evangelische Kirche, deren winzige Nachkriegskapelle hinter dem Marktplatz steht, bietet Räume für Kultur- und Nachbarschaftsinitiativen, Petra Schreiner gibt dort einen Kurs, der Malen mit Tanzen verbindet.

Vom Bürgergarten ist es nicht weit bis zum Rhein. »Wenn man hier abends auf der Rheinpromenade spazieren geht, trifft man immer Bekannte aus Poll«, sagt Petra Schreiner. Rund um den Campingplatz setze man sich mit einem Bier auf eine Bank und schaue in den Sonnenuntergang, »seit Corona ist das etwas moderner geworden«, findet sie. Weiter geht es an Basketball- und Tennisplätzen vorbei, die vom Hochwasser noch gezeichnet sind. Überall liegt Schwemmgut, dazu Baumstümpfe an der Promenade, die der Tornado entwurzelt hat.

Schließlich gelangen wir an den Treffpunkt der Kölner Raserszene. »Ich bin natürlich ein Gegner von Rasern, aber ich finde es interessant, wie die jungen Leute sich den öffentlichen Raum angeeignet haben«, sagt Hertel. Seit der Pandemie träfen sich viele junge Menschen an der Alfred-Schütte-Allee. »Die stellen ihre Shisha-Pfeifen auf der Hochwasserschutzwand ab und gucken auf den Rhein. Das ist dann die längste Theke von Köln«, so Hertel. Das Auto-Posing sei natürlich nicht nach jedermanns Geschmack. »Aber immerhin haben wir es den Rasern zu verdanken, dass wir jetzt endlich Tempo 30 und einen Zebrastreifen auf der Alfred-Schütte-Allee bekommen.«

Poll ist deutlich älter als der Kölner Durchschnitt; viel Zuzug wie in anderen Kölner Veedeln hat es in den vergangenen Jahren nicht gegeben. Es wurde nur wenig gebaut — Ausnahmen sind die als »Pollywood« bekannte Autofreie Siedlung am Poller Kirchweg und die Siedlung Am Wasserfeld, die derzeit errichtet wird. Es fehlen auch Geschäfte, die sonst mit dem Zuzug jüngerer Menschen einhergehen. »Ein Bioladen, eine Buchhandlung oder nette Cafés wären schön«, sagt Petra Schreiner. Sie und ihr Mann laufen an Kleingärten entlang zurück in ihre Siedlung. Hinter den Schütte-Werken beginnt eine Brachen-Landschaft mit wildem Gestrüpp und Lagerhallen. Schreiner zeigt auf einen blau gestrichenen Flachbau, in dem sich früher ein Umzugsunternehmen befand. Nun hat es die genossenschaftliche »Minhafaktur« gemietet. »Da gibt es eine Töpferei, einen Schmied, eine Kostümbildnerin, Musiker«, sagt Schreiner. Sie selbst wird dort bald einen Raum mieten.

Zurück in der Laurenz-Kiesgen-Straße. Hertel hofft, dass sie ihre Pläne für die Straßenbegrünung irgendwann doch noch umsetzen können. »Es muss sich etwas in ­diese Richtung bewegen«, sagt er. »Unser Veedel könnte
zum Vorbild werden für den klimagerechten Umbau von Nachkriegssiedlungen.« Kein Ort in Köln, findet Jan ­Hertel, wäre dafür besser geeignet als Poll. 

Anne Meyer

 

Märchenhaftes in der Müllergasse

Der Haus des Künstlers Klaus Balke hat eine neue Besitzerin

An der Müllergasse, im alten Dorfkern,  steht ein rot gestrichenes Backsteinhäuschen. Christina Otto öffnet die Tür. Sie hat das Haus erst vor wenigen Monaten gekauft und scheint noch immer verwundert darüber, was darin alles verborgen ist: handbemalte Fliesen in Küche und Bad, selbst bedruckte Vorhänge, zwei große Ateliers — und überall Modelle und Gemälde, es müssen Hunderte sein. Geschaffen hat sie der Maler und Bildhauer Klaus Balke (1929-2022), Vertreter der Kölner Schule, einer Gruppe, die vor allem sakrale Kunst wie Kirchenfenster, Tabernakel und liturgische Geräte schuf und als Avantgarde der Nachkriegszeit gilt. Balke wohnte hier mit seiner Frau Roswit, ebenfalls Künstlerin, und sieben Kindern. Klaus Balke starb im Sommer 2022, er wurde 93 Jahre alt.

»Balke hat das Haus nach dem Krieg selbst gebaut«, sagt Christina Otto, die Kunstlehrerin ist. Die neue Besitzerin lernte Balke im hohen Alter kennen und ließ sich von ihm künstlerische Techniken zeigen. Nach seinem Tod kaufte sie das Haus und wohnt nun hier mit ihrer kleinen Tochter und einer Freundin; im Atelier lebt noch eine Frau, »die war schon vorher hier, die habe ich von Klaus übernommen«. Die Sonne scheint in den großen Garten mit dem gewaltiger Magnolienbaum, aus dem offenen Schuppen schauen Pappmaché-Masken heraus, angefertigt von Balkes Tochter, die in Poll vor langer Zeit ein Theater betrieb.

Jeder Handwerker schlägt hier die Hände überm Kopf zusammenChristina Otto

Irgendwann will Christina Otto hier offene Ateliers schaffen, in denen Künstler Workshops anbieten. Doch zunächst muss saniert werden. »Jeder Handwerker schlägt hier die Hände überm Kopf zusammen«, sagt sie. Weil es nur einen Stromkreis gibt, können elektrische Geräte nur nacheinander laufen. Steckdosen gibt es nicht in jedem Zimmer, und die Wasserrohre verlaufen teils wild durch die Räume Doch Christina Otto bleibt gelassen. »Ich lasse mir Zeit«, sagt sie. »Das Wichtigste ist, das Haus als Ort der Kunst zu erhalten.«

Anne Meyer

 

Poller  Poser

Die Alfred-Schütte-Allee ist Treffpunkt für Raser. Nach Unfällen und Protesten hat die Politik nun reagiert

Im Herbst 2022 hörte Gerald Diepolder nachts Motorenlärm — mal wieder. »Die sind die ganze Nacht vor meiner Haustür vorbeigerast«, sagt der Anwohner der Poller Hauptstraße. Diepolder startete eine Petition »Gegen die Raser-/Poser-Szene und die Verwahrlosung der Poller Wiesen«. Fast 2200 Menschen unterzeichneten die For­derung, dass die Stadt Maßnahmen ergreifen soll.

Poll ist seit Jahren Treff von Rasern. Meist junge Männer stellen hochmotorisierte Fahrzeuge zur Schau und fahren extrem riskant. Hotspot ist die schnurgerade Alfred-Schütte-Allee an den Poller Wiesen. Seit der Corona-Pandemie wurde es noch schlimmer. Laut Polizei seien zuvor die Ringe Anziehungspunkt gewesen. »Bedingt durch das fehlende Publikum traf sich die Szene zunächst am Rheinboulevard. Nachdem seitens der Ordnungsbehörden dieser Bereich verstärkt kontrolliert wurde, wich die Szene auf die Alfred-Schütte-Allee aus.« 

Diepolder beschreibt die Raserei, aber auch die Vermüllung, die laute Musik, das aggressive Verhalten. Trauriger Höhepunkt war ein tödlicher Unfall im Januar 2023 in der Nähe der Schütte-Allee: Auf der Siegburger Straße tötete ein Autofahrer einen Fußgänger. Ob es einen Zusammenhang mit der Raserszene von der Schütte-Allee gebe, sei derzeit Gegenstand eines Verfahrens gegen den Fahrer, teilt die Polizei mit. Wenige Wochen später verlor ein 18-Jähriger die Kontrolle über seinen SUV, mehrere Menschen wurden verletzt. Danach beschlossen die Bezirksvertretungen Innenstadt und Porz die Sperrung der Straße abends und am Wochenende, Fahrbahnverengungen, Zebrastreifen, Tempo 30. Dass die Beschlüsse aber bis Jahresanfang teilweise nicht umgesetzt waren, liegt auch an den Schütte-Werken, die sich gegen eine Einschränkung des Verkehrs aussprechen. Das Unternehmen gilt als gut vernetzt. Grüne und CDU in Porz wollten im Februar gar noch die Maßnahmen abschwächen — zogen den Antrag aber kurz vor der Sitzung zurück. Nun aber haben die Baumaßnahmen begonnen.

»Ein Schritt in die richtige Richtung«, sagt Gerald Diepolder. »Aber wir befürchten, dass sich weiter dort getroffen wird.« Er sähe als letztes Mittel verstärkte Kontrollen und Blitzer. »Wir wollen, dass die Poller Wiesen von Tausenden von Menschen genutzt werden, aber nicht, dass andere Leute gefährdet werden oder viel Müll zurückbleibt. So wird das Naherholungsgebiet versaut.«

Jan Lüke

 

Auch Kasalla war hier

Die Gastronomie im Veedel ist erfreulich vielfältig

Das Poller Fischerhaus (Weidenweg 46) am Campingplatz ist eine traditionsreiche und beliebte Einkehr für Radfahrer und erinnert an Polls Vergangenheit als Fischerdorf. Im alten Ortskern ist das Alt Poller Wirtshaus (Poller Hauptstr. 28) Anlaufpunkt für Poller und Rheintouristen, im angeschlossenen Biergarten sitzt man im Schatten von Linden. Die Speisen sind rustikal, die kulinarischen Höhepunkte finden sich im Glas: Mit Meckatzer Weissgold, Leffe Blonde oder Alpirsbacher Festbier hängen interessante Biere am Hahn. Es gibt Quiz-Abende und Kleinkunst, auch Kasalla oder Cat Ballou machten hier schon Station. Nur wenige Meter weiter bieten die Schwestern Roberta und Rebecca Chiriatti ein Kontrastprogramm: Das Flo Salento (Poller Hauptstr. 55) bietet Gerichte ihrer Heimatregion, meist vegetarisch oder vegan, empfehlenswert sind etwa die hausgemachten Gnocchi und Gerichte aus dem pignata, einem im Salento typischen Tontopf. Die ambitionierteste Küche bietet das Meta (Siegburger Str. 385) an der KVB-Haltestelle Salmstraße. Der Zuspruch ist hoch, sowohl im mediterranen Restaurant als auch im Café. Poller schätzen aber auch das Pinocchio (Salmstr. 1). Der win­zige Imbiss bietet günstige Pizza, gegessen wird im Stehen.

Jan Lüke

 

Der letzte Bauer von Poll

Martin Kleinschmidt führt seinen Hof in vierter Generation


Wenn es in Poll nach Bauernhof riecht, dann ist es nicht mehr weit bis zu Martin Kleinschmidt. Mitten im Viertel, an der Straße Auf dem Sandberg, liegt sein Hof mit den alten Bauernhäusern, Scheunen und Ställen. Und dann ist da noch der Hofladen, in dem Kleinschmidt die Poller jeden Samstag mit Eiern, Kartoffeln, Gemüse und Getreide versorgt — alles von Feldern in Poll und Westhoven oder den eigenen Hühnern. Die Menschen kommen zu Fuß oder fahren kurz mit dem Auto vor.

»In den 60er und 70er Jahren wurden viele alte Häuser abgerissen. Aber von der dörflichen Atmosphäre hat sich trotzdem noch etwas erhalten«, sagt Martin Kleinschmidt, der selbst hinter dem Verkaufstresen steht. Der Hof war 1833 die erste Ansiedlung auf dem Sandberg. Seit 1910 ist er in Familienbesitz, und Kleinschmidt führt den Hof in vierter Generation mit seinen Eltern.

Der Poller Boden sei gut, sagt Kleinschmidt. »Recht sandig, aber gut für Kartoffeln.« Auch Weizen und ­Roggen baut er an, sowie rheinische Ackerbohnen, die vor allem seinen Schweinen und Hühnern als Futter dienen, die er aber auch im Hofladen verkauft. »Man kann daraus gut ein regionales Hummus machen«,
sagt ­Kleinschmidt.

Etwa zwanzig Hektar Land hat Kleinschmidt, dazu Hühner und fünfzig Schweine. »Der Hof hat seit Jahrzehnten dieselbe Größe. Das hat den Vorteil, dass wir komplett autark sind und auch selbst ernten können, ohne auf Lohnunternehmer angewiesen zu sein.« Kleinschmidt zeigt seine alten Traktoren. Hinter dem Schuppen sieht man ein Autobahnschild, es steht an der viel befahrenen Siegburger Straße. Sollte wie geplant die Autobahn A4 ausgebaut und die Rodenkirchener Brücke abgerissen und neu gebaut werden, wäre Kleinschmidts Hof erheblich betroffen. »Ein Großteil der Felder würde wegfallen«, sagt er.

Der Poller Boden ist gut. Recht sandig, aber gut für KartoffelnMartin Kleinschmidt

Auch um den Vertrieb kümmern sich Kleinschmidt und seine Eltern selbst. Neben dem samstäglichen Verkauf im Hofladen stehen sie donnerstags auf dem Markt in Humboldt und freitags auf dem Neptunplatz in Ehrenfeld. Kleinschmidt öffnet eine Stalltür, und man erblickt rosige, saubere Schweine. Sie werden auf Stroh gehalten — »eine aufwändige, aber artgerechte Haltung«, findet Kleinschmidt. Er fährt sie selbst zu einem Metzger im Westerwald, der ihm einen angemessenen Preis dafür zahle. Weiter geht es, am dampfenden Misthaufen und dem in der Sonne dösenden Wachhund vorbei, zum Hühnerstall, in dem Radiomusik dudelt. »Die Tiere mögen das«, sagt Kleinschmidt. Auch die Hühner sehen prächtig aus. Ausreichend Licht und Luft — darauf komme es an, damit Tiere sich wohlfühlten, so der Bauer.

Ein Bio-Siegel hat der Hof nicht, aber Kleinschmidt betont, dass er Wert auf artgerechte Haltung und eine natürliche Kreislaufwirtschaft lege. Warum aber ist dieser Hof nicht viel bekannter, wo es in Köln doch eine große Käuferschaft für regional und nachhaltig produzierte Lebensmittel gibt? Er habe nicht viel Zeit, Werbung zu machen, sagt Kleinschmidt. »Und wir können ja auch nur eine bestimmte Menge produzieren.« 

Anne Meyer

 

Tornado
Am 21. Dezember gegen 19.45 Uhr wütete in Poll ein Tornado mit Windgeschwindigkeiten von 220 km/h und verursachte schwere Schäden, die bis heute nicht alle behoben sind. Bäume wurden entwurzelt, Kamine kippten um, Dächer wurden abgedeckt. Am 7. August 1898 gab es in Poll schon einmal einen Tornado.

Rodenkirchener Brücke
Die Grenze von Poll zu Westhoven markiert heute die Rodenkirchener Brücke, die 1941 fertiggestellt wurde — schon damals ein starker Eingriff in die Natur. Nun ­sorgen Pläne des Bundes für Aufregung, die A4 auf acht Spuren zu erweitern und die Brücke ab 2034 abzureißen und neu zu bauen. Umweltverbände und die Bürgerinitiative A4-minus wollen das verhindern.
Projektseite: a4plus.koeln,
Seite der Bürgerinitiative: a4-minus.de

Milchmädchensiedlung
Berühmt waren früher die in Tracht gekleideten Poller Milchmädchen, die ins Kölner Zentrum fuhren, um Milch zu verkaufen. Anfang der 50er Jahre wurde östlich der Siegburger Straße eine Siedlung gebaut, die in Gedenken an sie Milchmädchensiedlung heißt. Das Milchmädchen-Denkmal aus den 20er Jahren allerdings steht 500 Meter weiter nördlich am Efeuplatz,
in einer Siedlung kleiner Einfamilienhäusern nach ­Plänen von Emil Rudolf Mewes (1885–1949).

Marktplatz
Gut ein halbes Dutzend Buden stehen freitags ab 7 Uhr auf dem Poller Marktplatz an der Siegburger Straße auf Höhe der KVB-Haltestelle »Salmstraße«. Es gibt Fleisch, Käse, Brot, Reibekuchen und Blumen. Konkurrenz kommt bald von einem Rewe-Supermarkt, der ins Parterre eines neuen Wohnhauses einziehen soll.

Campingplatz
Nördlich der Rodenkirchener Brücke, mitten im Landschaftsschutzgebiet am Rheinufer, liegt der Campingplatz. Es gibt rund 140 Stellplätze, einen Kiosk und einen kleinen Biergarten. Geöffnet ist der Platz von April bis Mitte Oktober. Allerdings birgt die schöne Lage auch die Gefahr einer Überflutung, wie zuletzt
im Sommer 2021.

Deutzer Friedhof
Der neue Deutzer Friedhof wurde 1896 angelegt — auf Poller Gebiet! Erwähnenswert sind neben der landschaftsgärtnerischen Gestaltung das wuchtige Marmorgrab des Chemikers und Nobelpreisträgers Kurt Alder (1902–1958) und die Grabstätte Tillmann mit Laternen und Tympanon.

Maifisch
Poll war früher nicht nur von der Landwirtschaft, sondern auch vom Fischfang geprägt. Darauf verweisen Straßennamen wie Salmstraße, Hechtstraße und Maifischgasse. Der Maifisch, eine Heringsart, wurde damals in der Innenstadt verkauft, er galt als »Lachs der kleinen Leute.« In den 50er Jahren war der Maifisch aus dem Rhein verschwunden. 2008 wurde auch auf Initiative Poller Bürger ein EU-Programm zur ­Wiederansiedlung im Rhein aufgelegt.

Germania-­Restaurant
An der Alfred-Schütte-Allee 163, vor den Sportanlagen der Rheinwiesen, befindet sich der Ruder- und Tennisklub Germania. Der Entwurf für dessen ursprüngliches Gebäude stammt vom Kölner Architekten Wilhelm Riphahn (1889–1963). Im Zweiten Weltkrieg wurde es stark beschädigt und 1964 modern saniert. Das ­Restaurant mit Terrasse samt Rheinblick ist ab Mitte März wieder geöffnet.