Electronic Music Diaspora: Blick in eine bessere (Club-)Zukunft? © Dana Schmidt

Electronic Music Diaspora: Die Welt ist eine WG

Wie die Clubszene sich an ihre postkolonialen Strukturen macht

Elektronische Musik ist ein globales, mosaikhaftes Phänomen. Ihre kleinteilige Entstehungsgeschichte setzt sich aus vielen Episoden, Entwicklungen und Ereignissen zusammen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf der ganzen Welt stattgefunden haben und ­gewiss noch nicht vollständig ­erzählt oder zusammengetragen wurden. In allen Bereichen der elektronischen Musik sind weltweite Verbindungen entstanden. Sich für Artist Residencies, Mentoring Programme, Projekte und Gigs auf weite Wege zu machen und ins Ausland zu gehen, gehört zu künstlerischen Werdegängen dazu. Der Szenebetrieb mobilisiert Mitwirkende und die Crowd, die von überall zu renommierten Festivals und Clubs anreist.

Trotz gegebener Internationalität und obwohl für die Karriere schon immer über Grenzen hinweg umgezogen wurde, wurde der Begriff Diaspora lange vermieden oder kam zumindest niemanden in den Sinn. Im allgemeinen Wording der Szene findet er erst seit wenigen Jahren Verwendung: es gibt Podcasts und Features über Diasporas, Affiliations und Artists verweisen auf ihre Zugehörigkeit, es gibt Tracktitel, Compilations und Playlists. Gründe dafür finden sich im definitorischem Wandel: »Der Begriff Diaspora (altgriechisch für ›Zerstreuung‹) bezeichnete ursprünglich eine Gruppe von Menschen, die ihre Heimat unfreiwillig verlassen mussten und über mehrere fremde Länder verstreut wurden, beziehungsweise das Gebiet, in dem diese Gruppe dann als Minderheit lebte.« ­Einem neueren Verständnis nach, wird die Bedingung einer Leidenserfahrung entkoppelt, wie in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung erläutert wird. »Der Aufstieg des modernen ­Diasporabegriffs hängt mit der ­Erschütterung der Vorherrschaft (Hegemonie) weißer Europäer*­innen und Amerikaner*innen ­zusammen« und führte zu »einer Abkehr vom Assimilationsparadigma« mit der Anpassung »an die sogenannte core culture (Kernkultur) der weißen« Locals. Der ver­änderte Umgang mit dem Begriff spiegelt den emanzipatorischen Wandel, Widerstand gegen Assimilation und Unterdrückung, die Inanspruchnahme gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe.

In diesem Verständnis formierte sich in Köln Timcheh, ­ein Verein rund um einen aus dem Iran stammenden Freundeskreis mit der Idee einer grenz- und kultur­übergreifenden Commu­nity mit dem Wunsch nach Begeg­nung zwischen Locals und Dias­poras, Dialog und Projekten. Mona und Mohsen erläutern: »Es ist wichtig, Räume zu schaffen, die es den Menschen erlauben oder besser ermöglichen, diese Identität zu praktizieren und mit anderen zu teilen. Und zwar nicht nur mit Menschen, die dieselbe Erfahrung haben, sondern mit Menschen, die Verständnis und Respekt für solche Erfahrungen ­haben. Das ist es, was wir mit Tim­cheh versuchen. Für viele von uns reicht der Besuch von Kulturprogrammen allein nicht mehr aus. Diese Phase haben wir hinter uns. Wir wollen unsere eigenen Geschichten erzählen, uns zugehörig fühlen und Diskurse mitgestalten.« Verortet in der elektronischen Musik, in audiovisuellen Kunstformen und Performance, organisiert Timcheh Veranstaltungen und Ausstellungen, darunter das Timcheh Festival, das durch seine musikalische, visuelle und soziale Qualität viel positives Echo erzeugt hat. Nach der Edi­tion 2021 beschreibt eine Review auf dem Blog ›Create Digital Music‹, »Timcheh ermöglichte einen Ausblick, in welche Richtung Produzent*innen der elektronischen Musik gemeinsam hinsteuern könnten. [...] Timcheh war nicht nur ein Treffpunkt für eine musikalische Diaspora-Community, sondern gleich ein Statement, wie diese Community einige der ­dynamischsten Entwürfe in einer musikalischen, synthetischen Imagination hervorbringt, die nicht an einen Ort gebunden ist.«

Was erfordert, aus­halten zu lernen und anzuerkennen, dass gesellschaftliche ­Privilegien Produkte historischer Ausbeutung und Fehler sind

Denke ich über die Bedeutung von Diaspora nach, dann muss ich Acht geben, mich nicht zu sehr an der alten Definition aufzuhängen. Es geht um Empathie, aber nicht um Mitleid, und um ein Bewusstsein dafür, dass die historisch ­gewachsenen Strukturen, in die westlich sozialisierte Gesellschaften noch immer eingebettet sind, den Parametern eines weißen ­Patriachats und kapitalistischen Leistungsprinzipien folgt. Was ­erfordert, aushalten zu lernen — kein »aber« — und anzuerkennen, dass gesellschaftliche Privilegien Produkte historischer Ausbeutung und Fehler sind. Vielfalt in unserer Gesellschaft oder Diversität in der Musikszene zu fordern, verlangt Begegnung auf Augenhöhe, vergleichbar mit dem Moment, wenn die neue WG-Mitbewohnerin die Küche umräumen möchte: es kann kurz wehtun, den Raum zu teilen, ist aber selbstverständlich. Unsere globalisierte Welt, wenn sie denn gerecht sein soll, ist eine WG — keine Untermiete, und schon gar kein Airbnb.

Clubkultur ist durch seinen Entwurf, der einen geschützten Gegenraum zum Normativ ­unserer Gesellschaft anbietet, ­politisch. Clubkultur ist auch ­politisch, weil dort freiheitlich, wert- und urteilsneutral sein darf, was vielerorts auch in subkulturellen Formaten nicht gelebt werden kann, gesellschaftlich verpöhnt, gesetzlich reglementiert oder verboten ist. Weshalb es Menschen, die subkulturelle Zugehörigkeit in ihrer Heimat nicht frei leben können, an mitunter ­liberalere Orte zieht. Mohsen von Timcheh erzählt: »Als ich nach Köln kam, war die Clubszene einer der wenigen Orte, an denen ich mich verbunden fühlen konnte. Ich hatte es schwer, meine Peer-Groups zu finden, nicht nur, weil ich keinen Zugang dazu hatte, sondern auch, weil ich nicht die Ressourcen (Netzwerke, Geld, Zeit) hatte. Abgesehen vom Tanzen öffnete mir die Clubszene eine Tür, um diese Verbindung zu spüren, auch wenn es nur für ein paar Stunden war. Ich fand es viel einfacher, ein Gespräch zu beginnen und manchmal sogar längere Gespräche von hoher Qualität zu führen. Man spürt, dass sich die meisten Menschen nach einer Art von Verbindung sehnen, nicht unbedingt durch Sprache, sondern auch durch einfaches Tanzen nebeneinander. Ich denke also, dass Clubszenen sehr wichtig sind.«

Viele bleiben für länger. Doch ist die Popularität von Technohauptstädten auch an standort­politische Merkmale geknüpft, die auf die historischen Muster verweist. Auch in der Clubkultur ­haben sich trotz ihres globalen ­Ursprungs und ihrer subkulturellen Identität männliche, weiße, heteronormative Strukturen breit gemacht. Wogegen der Widerstand in vollem Gange ist. Es ist gut, häufiger von den Electronic Music Diasporas zu hören und den Artists, ihren Geschichten und ­ihrem Sound mit nochmal neuem Verständnis zu lauschen. Die besten Afterhour-Gespräche gibt’s eh am WG-Küchentisch.

Interview-Passagen, wo nötig, aus dem Englischen übersetzt.