Auch nach 25 Jahren im Geschäft eine absolute Stilikone: Róisín Murphy © Nik Pate 2023

»Kontroll-Heuschrecken. ­Volt-Gesicht. Nebulöser ­Körper...«

Am 10. März gastiert Róisín Murphy mit ihrem gefeierten Album »Hit Parade« in Köln

Róisín, zuletzt habe ich Dich mit Deiner Band in Los Angeles im Herbst 2023 gesehen. Was mich wirklich beeindruckte, ist dieses Gefühl der Freiheit, das Du auf der Bühne transportiert bekommst, obwohl quasi alles choreografiert ist.

Ich folge definitiv keiner Choreografie. Sogar die Bühnenoutfits haben sich erst mit der Zeit entwickelt. Ich werde oft gefragt, wie ich meine Kostüme zusammenstelle. Das ist etwas, das in allerletzter Minute, zu Beginn einer jeden Tournee geschieht. An den ersten Tagen wird noch ausprobiert: Wann ziehe ich was an, wann wieder aus? Normalerweise ist das Set ziemlich festgenagelt: Dieser Song kommt zuerst, dieser Song kommt als zweiter... Aber die Bewegungen sind nicht choreografiert.

Ich meinte nicht, dass alles, bis auf die letzte Bewegung durchgeplant ist. Aber Du arbeitest dennoch mit festen Eckpunkten: Am Anfang filmst Du Dich zum Beispiel und das Kamerabild wird live auf die Leinwand projiziert. Das Bedarf einer gewissen Planung.

Es ist ein Wunder, dass wir diese Platten live umgesetzt bekommen. Ich bin sehr dankbar für die Live-Band, insbesondere für meinen musikalischen Leiter, Eddie Stevens. Es gibt nicht viele Acts, die hysterische elektronische Studiomusik in etwas umsetzen können, das wirklich live ist.

Heutzutage wird von Künstler:­innen erwartet, dass sie sich so verhalten, wie »das Publikum« es erwartet. Dich scheint so eine Erwartungshaltung nicht zu interessieren?

Es hat mich noch nie interessiert. Ich bin zufällig Sängerin geworden; ich warte immer darauf, dass die richtigen Dinge in meinem Leben passieren. Ich sitze nicht an einem Tisch bei einer großen Plattenfirma und überlege mit denen, was Róisín Murphy als Nächstes machen soll, verstehst du? Das war noch nie so.
Im Fall von »Hit Parade« ergab es sich, dass Stefan (Kozalla aka Dj Koze; Anm. d. Aut.) wie von Zauberhand in meinem Leben auftauchte; genau genommen hat die Art und Weise, wie ich lebe, Stefan zu mir gebracht.

Was jüngere Künstler:innen oft nicht verstehen: Man kann nicht alles planen, man sollte nicht alles planen. Oft ergeben sich die besten Sachen aus Spaßprojekten oder gar Dummheiten, die man auch zulassen muss. Viele jüngere Musiker:innen, so meine Wahr­nehmung, fühlen sich nicht frei genug, Risiken einzugehen. Weil man ihnen sagt, sie sollen einem Regelwerk folgen.

Aber war das nicht immer so? Zu meinen Anfangstagen gab es auch nicht viele, die den Weg gegangen sind, den ich eingeschlagen habe. ­Vielleicht habe ich deswegen immer die Kontrolle behalten: Ich habe schon immer meine ­Entscheidungen selbst getroffen, das ging los als ich mit 15 von Zuhause ausgezogen bin und alleine in Manchester gelebt habe. Ich hatte also schon eine Menge Mut, bevor ich überhaupt im Musikgeschäft gelandet bin.

Du hast auch nie erwartet, dass du etwas bekommst, nur weil man es Dir versprochen hat, oder?

Ich vertraue nur meinem eigenen Bauchgefühl — und ich hatte nie Probleme damit.

Lass uns zu »Hit Parade« zurückkommen. Man denkt immer, dass eine gewisse Magie nur unter bestimmten Bedingungen und im Zusammenspiel von Künstler:­innen passiert. Aber Stefan Kozalla und Du habt räumlich getrennt (Ibiza und Hamburg) in zwei Studios und mit unterschiedlichen Zeitplänen gearbeitet. Wie schwierig war es, auf einen Nenner zu kommen? 

Mir hat diese Arbeitsweise tatsächlich Spaß bereitet. Es begann alles mit der Zusammenarbeit für sein Album »Knock Knock«. Er gab mir damals all diese erstaunlichen Tracks (von denen es zwei auf das Album schafften; d. Aut.), die sonst niemand auf die Weise produzieren kann. Ich ging mit einem Tontechniker in ein kleines Studio und nahm die Gesangparts auf. Da waren aber noch all die ­anderen, ungenutzten Tracks, also sagte ich zu Stefan: »Könnte daraus vielleicht eine Róisín-­Platte werden?« Und er antworte: »Ja! Aber erwarte nicht, dass ich es in kürzester Zeit schaffe. Es wird so lange dauern, wie es nötig ist, denn wir werden es in unserer ­eigenen Zeit machen. Und auf ­unsere eigene Weise.« Ich dachte mir: »Okay, das ist DJ Koze und was immer er sagt, soll mir recht sein. Hauptsache wir machen weiter.« Am Ende ­dauerte es fünf Jahre. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich den richtigen Produzenten ausgesucht habe, behandle ich ihn gut, bin ­geduldig und lass mich auf seinen Prozess ein.

Bist Du denn auch sonst eine unkomplizierte Künstlerin, die Anderen, mit denen sie zusammenarbeitest, gut vertrauen kann?

Ich bin nur zu Produzenten nett, zu allen anderen bin ich eine Zicke. (lacht)

Mich interessiert, wie Róisín Murphy Songs schreibt. Ich stelle mir das so vor: Du begibst Dich, sobald Du eine Idee hast, sofort an die Umsetzung. Oder bist Du eher eine Planerin, die sich Schreibtage setzt?

Genau das ist mein Vorgehen: »Heute werde ich einen Song schreiben.« Aber ich schreibe auch immer in meinem Alltag Dinge auf. (liest aus ihren Notizen vor:) »Kontroll-Heuschrecken. Volt-­Gesicht. Nebulöser Körper. Fünfte Kolonne. Antike Kultur. Radikale Erschütterung. Schlechte Optik...«
Bevor ich viel im Internet gelesen habe, habe ich meine Ideen auf Papier geschrieben. Ich hatte diese großen Skizzenbücher mit Dingen, die ich aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten habe. Ich erstellte Collagen aus Wörtern, Sätzen und anderen Dingen. Ich habe diese Bilder überall im Studio verteilt, und wenn ich mit etwas nicht weiterkam, habe ich mich umgeschaut und gesehen: »Oxytoxin — was war das denn nochmal?« Und dann habe ich daraus einen ganzen Song gemacht, der »Overpowered« heißt. Ich bin nie verloren, weil ich immer auf meine gesammelten Ideen ­zurückgreifen kann.

Róisín Murphy hat mit Mark Brydon als Moloko in acht Jahren vier Alben (inklusive der Hit-Singles »Sing It Back« und »The Time Is Now«) veröffentlicht. Seit Mitte der 00er Jahre agiert sie solo und arbeitet mit wechselnden ­Produzenten zusammen (unter anderem Matthew Herbert und Maurice Fulton). Zuletzt veröffentlichte sie mit DJ Koze das psychedelische Pop-Dance-Spektakel »Hit Parade« auf Ninja Tune. Róisín Murphy lebt und arbeitet auf Ibiza.