Treue Freundschaft

Die Unschuld

Hirokazu Koreedas Mystery-Thriller beleuchtet ­multiperspektivisch Freundschaft und Glück

Wenn ein Fünftklässler von sich sagt, sein Hirn sei gegen ein Schweinehirn ausgetauscht worden, könnte man das zunächst noch als eine Umschreibung pubertären Leidens verstehen. Doch die Seltsamkeiten häufen sich in der japanischen Stadt, die malerisch an einem See liegt.

Gleich zu Beginn des Films von Hirokazu Koreeda (»Shop­lifters«) brennt ein Hochhaus. Während einer Autofahrt springt ein Zehnjähriger aus dem Wagen seiner Mutter, ein anderer Junge schreibt in Spiegelschrift und ruft fröhlich »Wer ist das Monster?« Die Rektorin der Schule spricht wie ein Höflichkeits-Roboter und soll ihr Enkelkind überfahren ­haben. Und von welcher fernen Apokalypse dröhnen eigentlich die Posaunen herüber, deren schiefen Klänge immer wieder die ansonsten zarten Kompositionen Ryuichi Sakamotos durch­schneiden?

Obwohl die Zeichen also auf Mystery-Thriller stehen, wobei Koreeda auf treibende Musik oder schnelle Schnitte verzichtet, durchläuft »Die Unschuld« drama­turgisch eine Transition: durchs Dunkle und Gerüchteweise in wechselhaften Spotlights der Erkenntnis schließlich zum Leuchten puren Glücks.

Das Glück, auf das alles hinausläuft, wurzelt in der durch Rollenzuschreibungen und Gewalt unter Druck gesetzten Freundschaft zwischen zwei Klassenkameraden. Dreimal setzt der Film neu an, zunächst aus der Sicht der alleinerziehenden Mutter des einen Jungen, dann aus der Sicht des Lehrers, im letzten Drittel schließlich nimmt der Film die Perspektive der beiden Kinder ein.

Koreedas Verbeugung vor Akira Kurosawas Klassiker »Rashomon« (1950) verlegt die Frage »Was können wir wissen?« in ein Schulgebäude. Doch der dort propagierte Wertekanon zwischen traditioneller japanischer Etikette und westlicher Selbstverwirklichung (fast alle Hauptfiguren tragen Shirts mit Aufschriften wie »California« oder »Working Class«) scheint so instabil wie der Berghang, der während eines Taifuns zu rutschen beginnt und eine Art Wiedergeburt einleitet.

Ständig legt das in Cannes ausgezeichnete Drehbuch Yūji Sakamotos falsche Fährten und spart Ryūto Kondōs Kamera Bildbestandteile aus. Koreedas ruhig rhythmisierte Montage bringt nach und nach fast alle Vorannahmen zum Einsturz und verwandelt sie allem Katastrophischem zum Trotz in eine optimistische, fast schwärmerische Vision.

(Kaibutsu) J 2023, R: Sakura Andô, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, 127 Min.