Liebe im Fahrstuhl: ANALOG, Foto: Studio Pramudia

Auf inspirierende Weise ver-wirrend

Vor 20 Jahren wurde ANALOG gegründet, um eine selbstverwaltete Struktur für Künstler*innen zu schaffen. Ein Gespräch mit dem künstlerischen Leiter und Gründer Daniel Schüßler im Jubiläumsjahr.

Es ist schon erstaunlich: Da ist ­Daniel Schüßler den ganzen Tag unterwegs, bei Proben, technischen Einführungen, Treffen mit der Gruppe — und abends am Telefon, knipst er sich nochmal an; von Müdigkeit keine Spur. Begeistert, aber ohne einen Funken Eitelkeit,  erzählt er von den letzten 20 Jahren ANALOG, der Gruppe, die er, damals noch in den Anfängen seiner Theaterlaufbahn, gegründet hat. Seitdem prägt sie die Freie Szene in Köln, eng verwurzelt mit der Studiobühne und mit immer neuen Künstler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen. »ANALOG schenkt Liebe« schreibt die Gruppe in ihrer Einladung zum Jubiläumsjahr. Eröffnet wurde das mit den sogenannten »Festspielwochen« im Februar.

Da lief erst »Shit(t)y Vol.1 — Straße. Laterne. Wohnblock.« in der TanzFaktur und gleich darauf »Mein Vater war König David« am Orangerie Theater. Beides Stücke, die sich mit sehr persönlichen Zugängen zur Welt beschäftigen: Ersteres mit der Wahrnehmung der Stadt, ausgehend von der Tonbandaufnahme »Fratzen in der Straßenbahn« (1973) des Underground-Lyrikers Rolf Dieter Brinkmann; das zweite Stück hingegen mit der jüdischen Familiengeschichte des Ensemblemitglieds Lara Pietjou, die erst nach dem Tod des Vaters die Gründe für dessen psychische Erkrankung, sein transgenerationales Trauma, erkannte. Die Gruppe ANALOG verwebt in ihren Bühnenproduktionen stets verschiedene künstlerische Ausdrucksformen zu einem multimedialen Netz, manchmal nicht einfach zu entwirren, aber immer auf inspirierende Weise »ver-wirrend«.
»Gegründet habe ich ANALOG 2004, mit genau diesem Gedanken: Eine Gruppe zu eröffnen, in der sich ganz unterschiedliche Künstler*innen zusammentun«, erzählt Schüßler. Hinter ihm lagen damals Schauspielengagements an Stadttheatern und bei der katalanischen Theatergruppe »La Fura dels Baus«, die bis heute spektakuläre Projekte realisiert: etwa das Schiff »Naumon«, Probeort und Bühne in einem, auf dem eine Gruppe von Künstler*innen und Studierenden gemeinsam lebte und arbeitete. »Mich hat das damals wahnsinnig inspiriert und weil ich es aus meiner Zeit in Hausprojekten und besetzten Häusern gewohnt war, selbstverwaltete Strukturen zu schaffen, hab ich gedacht: Das machen wir einfach auch.«

Zu ANALOG als Leiterin hinzugekommen ist 2007 die Performerin Dorothea Förtsch, gemeinsam arbeiten sie kollektiv mit den anderen Ensemblemitgliedern zusammen. »Wir haben die Vereinbarung, dass wir für jedes neue Stück eine für uns neue künstlerische Form ausprobieren«, erzählt Schüßler, »deswegen kommen immer neue Menschen dazu und weil wir uns anfreunden, bleiben sie dann meistens auch.« Eines seiner schönsten Erlebnisse mit ANALOG: die Arbeit am Stück »Nur Utopien sind noch realistisch«, uraufgeführt im September 2017. Darin geht es um seine Mutter, die — fast blind und gehbehindert — mit 58 Jahren beschloss, an den Polarkreis zu ziehen. Zwei Jahre später kehrte sie nach Deutschland zurück, doch es blieb die Sehnsucht nach dieser anderen Welt. Schüßler erinnert sich: »Wir haben ihre Lebensgeschichte erzählt und am Ende stand meine Mutter, die in dem Stück mitspielte, inmitten einer Schneelandschaft und Nordlichtern auf der Bühne, in ihrem persönlichen Finnland. Sie hatte es wieder dorthin geschafft.« Kurz nach der Premiere wurde »Nur Utopien sind noch realistisch« mit dem Kölner Theaterpreis ausgezeichnet und sogar vom Goethe Institut zu einem Gastspiel in Helsinki eingeladen. »Wir sind dann noch an den Ort gefahren, an dem meine Mutter einmal gelebt hat. Sie selbst war zu diesem Zeitpunkt leider schon zu krank, um uns zu begleiten.«

Zum Programm der Gruppe gehören neben den Inszenierungen für die Bühne auch mehrteilige ­Gesprächsformate wie »Die Tafel«, wo während dem Lockdown der Bühnen unter anderem mit Fanni Halmburger vom Performance-Kollektiv SheShePop über Solidarität und den Gründungsmitgliedern der legendären Berliner »Bar 25« über Freiheit diskutiert wurde. Auch der Podcast »Kultür in Zeiten von Corona« entstand damals. Tröstlich und lustig war es, Daniel Schüßler zu lauschen, wie er manchmal durch den Park stromerte und seinen Gedanken ziemlich assoziativ freien Lauf ließ.

Nur Utopien sind noch realistischTitel eines Analog-Stücks

Überhaupt scheinen in seinem Kopf ständig Bilder zu entstehen, kleine Szenen und theatrale Fantasien, die er erzählt, als könnten sie für die Bühne sein — oder einfach eine von vielen ­möglichen Realitäten. Etwa als
es darum geht, wie prekär die ­freiberufliche Kunst ist, mit unzähligen Jobs bei Workshops und Lehraufträgen neben ANALOG. »Irgendwann mit Anfang 60 falle ich vielleicht einfach mal um und dann werden graue Herren in ­Anzügen an meinem Grab stehen, eine letzte Zigarette rauchen und sagen: naja, wenigstens war er konsequent«, sprudelt es mit einem selbstironischen Lachen aus ihm heraus. Denn nachdem Ende 2022 die dreijährige Konzeptionsförderung des Landes NRW für die Gruppe wegfiel, wurde es finanziell eng. Ein ziemlich bitterer Moment sei das für ANALOG gewesen: »Wir wissen noch immer nicht genau, wie es in den kommenden Jahren weitergeht, aber mit der Unterstützung der Stadt Köln schaffen wir es gerade weiterzumachen.«

Und das ist gut so, denn in den kommenden Monaten wird um ANALOG einiges los sein: Im Mai wird im NS-Dokumentationszentrum eine Installation zum Stück »Mein Vater war König David« ­gezeigt, bei der das Publikum an verschiedenen Stationen in die ­Familiengeschichte von Lara Pietjou eintauchen kann; mittels Audioaufnahmen der Schauspieler*­innen, Originalfotos der Familie und einem historisch-dokumentarischen Filminterview, in dem Lara Pietjous Großmutter über ihre Flucht während der NS-Zeit erzählt. Anschließend geht es im September weiter mit der Premiere der neuen Produktion »Safe the Planet, kill your self. Kirche der Selbstauslöschung«, die die »birthstrike«-Bewegung, also Kinderlosigkeit für den Klimaschutz, auf die Spitze treibt — ein Gedankenspiel. Und im Oktober die große Jubiläumsfeier, die mit einem Symposium beginnt. »Schatten werfen keine Schatten. Wohin geht die Demokratie?« lautet der Titel. Als eine der ersten hat die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal bereits für die Podiumsdiskussion zugesagt. Anschließend übernimmt das Partykollektiv ­krakelee, mit dem ANALOG für diesen Abend zusammenarbeiten. Es wird einen Bandauftritt geben, Elektro-Gigs und Feiern bis zum Morgengrauen.