Verlorene Ehre: Katharina Blum gegen den Rest der Welt, Foto: Krafft Angerer

»Gewalt entsteht, wo sie kann«

Im Schauspiel Köln beschäftigt sich ein Böll-Klassiker mit der Frage: Was hat sich in den letzten 50 Jahren getan?

Im ausverkauften Depot 1 sucht das Publikum nach freien Plätzen. »Reihe 7? Entschuldigung, ich muss da bitte durch«, es raschelt bis das Licht gedimmt wird und drei Personen im Anzug die Bühne betreten. Kleidung und Auftreten verraten ihre Epoche: Die 1970er Jahre. Sie bringen Akten mit sich und breiten sie vor sich aus:

Der Fall »Katharina Blum«. Hinter ­ihnen erscheinen die arrangierten Dokumente auf drei Screens projiziert. Eine Collage entsteht und gibt Einblick in die Ermittlungsakten. Katharina Blum, ­»unbedeutende Hausgehilfin«, wird als kluge 27-Jährige vorgestellt. Nach einem Karnevalsball verhalf sie einem Verbrecher zur Flucht, eine Woche später tötet sie den Boulevardjournalisten Werner Tötges in ihrer Wohnung. Warum?

»Die verlorene Ehre der Katharina Blum«, inszeniert von Bastian Kraft, macht die Eskalationsstufen von Verzweiflung bis hin zu kalter Berechnung sichtbar. Videoaufnahmen von Katharinas Vernehmung nach ihrer Nacht mit dem gesuchten Verbrecher zeigen einen ruppigen Kommissar. Er trägt Lederjacke, sitzt breitbeinig und befragt die junge Frau nur allzu gern nach ihrem »Herrenbesuch«. Denn Katharina ist wegen »Zudringlichkeiten« ­ihres Ex-Mannes geschieden. Dennoch hatten Nachbar*innen häufige Sichtungen von männlichem Besuch zu Protokoll gegeben. Grund genug, Katharina Blum medial fertig zu machen?

Die Schauspielerinnen Lola Klamroth, Rebecca Lindauer und Katharina Schmalenberg übernehmen geschickt die Rollen aller fünfzehn Figuren. In beeindruckender Simultansynchronisation vertonen sie die Videosequenzen und zeichnen mit Genauigkeit, Charme und subtiler Komik diese Personen nach, die wir wohl alle kennen: die schlaue Anwaltsgattin, die spießige Protokollantin, die aufdringlichen Männer mittleren Alters. Und eben die kluge ­Katharina, stets bemüht, weiteren »Zudringlichkeiten« aus dem Weg zu gehen. Die Polizei, ihr gegenüber unverschämt, die Boulevardpresse: skrupellos.

»Look what you made me do«, singen die Schauspielerinnen plötzlich zur Überraschung auf Englisch und helfen dem Publikum lebhaft zu erfahren, »wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann«. So bleibt die Sympathie des Publikums auf Seiten der Täterin und eine Frage steht im Raum: Wie anders würde die Erzählung um Katharina Blum im Heute aussehen? Was hat sich geändert, was ist noch in jeder Kleinigkeit genau so wie vor 50 Jahren?