Ein Engel mit Kollwitz-Antlitz: Ernst Barlachs »Der Schwebende«

Ein Engel auf Erden

Ernst Barlach, Der Schwebende, Antoniterkirche

Die Antoniterkirche an der Schil­dergasse hat für mich eine besondere Bedeutung, handelt es sich doch um die Taufkirche ­all meiner acht Kinder. Ich suche sie regelmäßig auf, meist ohne mir viele Gedanken über das bedeutende Kunstwerk, das die gotische Kirche beherbergt, zu machen. Bei meinem jüngsten Besuch aber änderte sich das: Schon beim Betreten empfängt mich »Der Schwebende«, ein überlebensgroßer, aus Bronze gegossener Engel, der, obwohl nicht zentral über dem Altar platziert, die Kirche durch seine bloße Präsenz einnimmt. Senkrecht zur Eingangstür im Seitenschiff platziert, zieht er einen geradezu in seinen Bann. Was macht diese Ausstrahlung aus?

Das außergewöhnlich zarte Kriegsdenkmal entstand 1927 für die 700-Jahr-Feier des Güstrower Doms in Ernst Barlachs Heimatstadt. Doch schon kurz nach der Anbringung des Engels begannen die Anfeindungen. Statt Militarismus und deutschem Heldenmut zu frönen, drückt Barlach hier seinen Pazifismus mit untypischen, weiblichen Gesichtszügen aus, die auch mich faszinieren. Es ist wohl das Gesicht der Käthe Kollwitz, einer engen Freundin des Künstlers, die ihren Sohn im Ersten Weltkrieg verloren hat. Der fest verschlossene Mund und die ebenso geschlos­senen Augen wirken konzentriert, fast meditativ und dem Schweigen verpflichtet: Ein Ringen mit dem Schmerz der Trauer. Fast möchte man dem Engel mitfühlend über die kalten Wangen streichen.

Die pazifistische Haltung, die Barlach in seiner Kunst ausdrückt, gipfelte für ihn 1935 in der Diffamierung seiner Werke während der »Entartete Kunst«-Ausstellung der Nationalsozialisten. Nur kurze Zeit später wurde »Der Schwebende« aus dem Güstrower Dom entfernt, von Hitlers Helfern konfisziert und für die Wehrmacht eingeschmolzen.

All das war zu viel für Barlach, der 1938 verstarb. So erlebte er ­leider nicht mehr, wie Freunde den Gipsabdruck des Werks retten konnten. 1952 entstand ein Zweitguss für die Kölner Anto­niterkirche, die damit neben dem Güstrower Dom, wo wenige Jahre später ein Drittguss angefertigt wurde, das Heim für dieses ­besondere Denkmal ist — das, ­untypisch für eine evangelische Kirche, mit Opferkerzen bedacht werden kann. Denn der Krieg, daran erinnert dieser Engel, kennt keine Konfessionen, Ethnien oder Zugehörigkeiten, sondern nur die Überlebenden und die Toten.