Langer-Bleistift-Intellektueller: Max Lobe, Foto: Herby Sachs

Verlorene Utopie

Max Lobe erzählt in ­»Vertraulichkeiten« von der Unabhängigkeit Kameruns

Ein schöner Nebeneffekt des durchaus hart geführten Streits um die Bedeutung der Kolonial­geschichte für Deutschlands Gegenwart ist, dass auch in den ­Hintergrund geratene Kapitel mittlerweile Aufmerksamkeit ­erhalten. Eines davon streift Max Lobe in seinem Roman »Vertraulichkeiten«, mit dem er im Frühjahr 2023 für den Preis der Leip­ziger Buchmesse nominiert war: die deutsche Kolonialherrschaft über Kamerun.

Im Roman ist diese ein Kapitel einer Geschichte, die selbst mehr Aufmerksamkeit erhalten könnte. In ihrem Mittelpunkt steht Ruben Um Nyobè, der 1913 noch unter deutscher Kolonialherrschaft geboren wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg lernte er den Marxismus kennen und wurde zu einem Vorkämpfer der kamerunischen Unabhängigkeit von Frankreich, der Kundé. Anfang der 1950er Jahre widmete er sich dem bewaffneten Kampf und wurde 1958 von den französischen Kolonialherren in einer brutalen Hetzjagd ermordet, der auch viele Zivilisten der Volks­gruppe der Bassa zum Opfer fielen. Seine Geschichte war lange ein Tabu im Kamerun.

Der mittlerweile in der Schweiz lebende Lobe kehrt in »Vertraulich­keiten« in seine Heimat zurück, um dieser Geschichte nachzugehen. Aber anstatt einer strukturierten Chronik der Ereignisse kehrt er mit der Erzählung von Mâ Maliga zurück. Sie ist die wahre Hauptfigur von »Vertraulichkeiten«, eine weltkluge und lebensweise Frau, die die Schreckenstaten der Franzosen an den Bassa miterlebt hat. In einem selten gradlinigen Monolog berichtet Mâ Maliga von der Solidarität unter den Frauen ihres Dorfes und spottet über die »Lange-Bleistift-Intellektuellen« wie Lobe und ihren ­eigenen Mann, einen Lehrer, der den Wertekanon der Kolonialherrscher internalisiert hat. Erst langsam nähern sich die beiden an, bis Mâ Maliga schließlich auch auf die traumatischen Umstände von Um Nyobès Tod zu sprechen kommt und sie sein Grab besuchen.

In Maligas Quasi-Monolog scheint ein Bewusstsein auf, das ebenso Distanz zu den Kolonisatoren hält wie zu denjenigen, die sich während der Unabhängigkeit bereichert haben. »Vertraulichkeiten« beginnt als Roman ­eines Diaspora-Angehörigen auf der Suche nach seiner eigenen Geschichte. Was er findet, ist die Geschichte eines Landes, das nicht so werden durfte, wie es hätte sein können: die Geschichte einer verlorenen Utopie.

Max Lobe: »Vertraulichkeiten«, Akono Verlag, 268 Seiten, 20 Euro