Stehlampe statt Luftgitarre: Die Talking Heads in »Stop Making Sense«

Die Kamera als Publikum

Taylor Swifts Konzertfilm bricht alle Rekorde. Zwei Konzertfilme, die jetzt ins Kino kommen, ­interpretieren das Genre völlig anders

Taylor Swift ist ein Superstar der Superlative und es überrascht ­wenig, dass auch ihr Konzertfilm »Taylor Swift: The Eras Tour« an den Kinokassen neue Rekorde aufstellte. Das Konzertpublikum ist dabei ein wichtiges Element des Films; immer wieder hält die Kamera auf die Handys der meist jungen, überwiegend weiblichen Zuschauer, die ihrerseits Swift filmen. Fans und Follower werden gespiegelt, wer den Film sieht, erkennt sich in den anderen Swifties und muss nicht lange überzeugt werden, auf der richtigen Veranstaltung zu sein.

Zwei Konzertfilme, die jetzt in die Kinos kommen, haben einen ganz und gar anderen Ansatz im Umgang mit dem Publikum — und bringen so auch die Konzertfilmzuschauer in eine andere Position. In »Opus« nähert sich die Kamera zu Beginn ganz langsam von hinten Ryūichi Sakamoto, der in einem abgedunkelten Raum an einem Flügel sitzt, um sein Lebenswerk aufzuführen. Das letzte Mal, bevor er wenige Wochen später am 28.

März 2023 stirbt. »Opus« ist ein audiovisuelles Vermächtnis, wie es kaum ein zweites gibt, weil es nicht mehr zu sehen und zu hören gibt als den Künstler und seine Kunst. Kein Publikum, keine Einblendungen, keine Effekte. Es ist die pure Essenz des Schaffens und des Ausdrucks des japanischen Musikers und Komponisten. ­Gefilmt wurde schwarz-weiß mit drei 4K-Kameras unter der Regie von Neo Sora in einem Studio des NHK-­Broadcasting-Centers in Tokio, das Sakamato aufgrund der einzig­artigen Akustik ausgewählt hatte. Doch auch visuell entspricht die reliefartige Architektur des Studios Sakamotos minimalistischen Klängen perfekt. Die Intimität des Films verdankt sich nicht zuletzt der Wahl des Regisseurs: Sora ist Sakamotos Sohn.

Kein Publikum, keine Einblendungen, keine Effekte. Es ist die pure Essenz des Schaffens

Ende der 70er Jahre war Ryūichi Sakamoto in Japan bereits ein Star mit der Elektropop-For­ma­tion Yellow Magic Orchestra, bevor er sich in den 80er Jahren verstärkt dem Medium zuwandte, mit dem er sich nun verabschiedet hat. Er schrieb 1983 die Filmmusik zu »Fu­ryo — Merry Christmas, Mr. Lawrence«, in dem er neben David Bowie auch eine Hauptrolle spielte. Vier Jahre später schrieb er gemein­sam mit David Byrne die Oscar-prämierte Musik zu Bernardo Bertoluccis »Der letzte Kaiser«. Als er 2015 den Soundtrack für »The ­Revenant« mit Leonardo DiCaprio schrieb, war ihm kurz zuvor Kehlkopfkrebs diagnostiziert worden. An Filmmusik arbeitete Sakamoto bis zuletzt, während die Krankheit Auftritte nicht mehr zuließ. Für »Opus«, im September 2022 in wenigen Tagen eingespielt, nahm er noch einmal alle Kraft zusammen — er wollte mit diesem diszipliniert geordneten Vermächtnis sterben, das an seinem ersten Todestag in die Kinos kommt.

Am selben Tag kommt ein weiterer Konzertfilm in die Kinos, restauriert und ebenfalls in 4K, der vor vier Jahrzehnten die Möglichkeiten dieses Genre neu definierte, und auch hier fällt wieder der Name David Byrne: »Stop Making Sense« von und mit Byrne und seiner Band Talking Heads unter der Regie von Jonathan Demme (»Das Schweigen der Lämmer«). Schon die Eröffnungsszene war völlig anders als alles, was man bis dahin von Konzertmitschnitten von »Woodstock« bis »Rockpalast« kannte. David Byrne betritt solo mit Akustik­gitarre und Kassettenrecorder eine karge Bühne, spielt »Psycho Killer« zum Beat eines Drumcomputers und legt dazu zuckende Tanzeinlagen hin. Nach und nach kommen die weiteren Musiker hinzu, deren Instrumente von Bühnenarbeitern in die laufende Show geschoben werden. Später tanzt Byrne im legendären übergroßen Anzug mit einer Stehlampe — Brecht’sche Verfremdungseffekte, die die einschlägigen Rockmusik-Klischees  konterkarieren.

Wie in »Opus« sind die Kinozuschauer das Publikum. Die ­Talking Heads spielten an den Drehtagen im Pantages Theatre in Hollywood zwar vor Besuchern, das spielt im Film kaum eine Rolle. Vierzig Jahre trennen die beiden Filme, die bei allen Unterschieden in ihrer Anmutung die denkbar beeindruckendsten Gegenentwür­fe sind zu »Taylor Swift: The Eras Tour«. Hier ist das Stadion­pub­li­kum Teil der Inszenierung fürs ­Kinopublikum, während David Byrne in »Stop Making Sense« ­Musik und Bilder direkt an die Kino­zuschauer adressiert. Ein Weg, den Ryūichi Sakamoto mit »Opus« konsequent zu Ende ging, als er einzig und allein für sich und die Kameras spielte.