Lyrik als Widerstand: Hossein Soleimani

Irdische Verse

Ali Asgari und Alireza Khatami zeigen in bitter-komischen Szenen, wie Bürokratie und Tyrannei im Iran ineinandergreifen

Nichts ist mehr wie vorher im irani­schen Kino: Die Proteste der »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung stellen auch den Kopftuchzwang von Schauspielerinnen infrage, zahlreiche Filmschaffende haben sich sowieso mit den Protestierenden solidarisch erklärt. Im Februar sorgte das Teheraner Fajr-Filmfestival für einen Skandal, als für regimetreu gehaltene Preisträger sich auf der Bühne lautstark für die Anliegen der Frauen aussprachen. Im komplett ohne Zensureingriff gedrehten diesjährigen Berlinale-Wettbewerbsfilm »The Favourite Cake« sucht eine 70-Jährige einen Liebhaber.

»Irdische Verse«, der im vergangenen Jahr in Cannes Premiere feierte, zeigt, wie Bürokratie und Tyrannei im Land ineinandergreifen: In neun Tableaus sprechen Bürgerinnen und Bürger, zumeist sitzend, mit Vertreter*innen der staatlichen und sozialen Ordnung, die hinter der Kamera unsichtbar, nur durch ihre Stimme präsent sind. Die Situationen sind denkbar unterschiedlich: Ein junger Mann will den Namen seines Neugeborenen registrieren lassen, aber ihm wird beschieden, »David« sei ausländisch, nicht islamisch und daher verboten; ein kleines tanzendes Mädchen — mit Mickey-Maus-­T-Shirt, pinkfarbenen Turn­schuhen und Kopfhörern Inbegriff globaler Popkultur — bekommt zur Einschu­lung eine sittenkonforme Uniform verpasst, inklusive Maghnae, einer bis zur Brust reichende Kopfbedeckung.

Der Ton ist bisweilen satirisch, fast humoristisch — etwa in der Sequenz mit der älteren Dame Mehri, die bei der Polizeiwache vorspricht, weil sie ihr Hündchen Minou sucht, das von zwei Beamten abgeholt wurde — Hundehaltung gilt im Iran als unrein und ist verboten. Meist aber hängt eine Bedrohung in der Luft: Beim Vorstellungsgespräch der jungen Faezeh werden die Fragen des Chefs schnell privat, dann anzüglich und sexuell übergriffig. Geradezu hautnah gerät der Amtstermin des jungen Farbod, der seinen Führerschein abholen möchte. Unter dem Vorwand, seine psychische Tauglichkeit zu prüfen, muss er sich schließ­lich wegen eines hervorlugenden Tattoos vollkommen entblößen. Bei dem Beamten scheint sich das Auskosten seiner Macht mit sexuellen Untertönen zu mischen.

Der Ton des Films ist bisweilen satirisch, fast humoristisch — meist aber hängt eine Bedrohung in der Luft

Recht deutlich sind die Bezüge zu Michel Foucaults Betrachtungen über die soziale Kontrolle des Körpers, so wie er sie in »Überwachen und Strafen« (1975) und seinen biopolitischen Schriften darlegt — wobei Foucaults bis­weilen diffuser Machtbegriff im Gottesstaat Iran seine sehr konkrete Ausformung findet. Beklemmend inszeniert ist ein anderes Vorstellungsgespräch, bei dem Siamak, ein einfacher Arbeiter, eine Sure (»Das Erdbeben«) rezitieren und die Gebetswaschung simulieren soll, um nachzuweisen, dass er ein gläubiger Schiit ist.

Das schwere Thema ist vom Regieduo Ali Asgari und Alireza Khatami meisterhaft umgesetzt, das enge unbewegte Bildfeld wird durch Ausstattung, Bühnenbild und nuancenreiches Schauspiel zu einer atmosphärisch dichten Druckkammer, in der jederzeit vieles möglich ist. Bisweilen gibt es einen Umschlag, einen Ausweg: Eine Oberstufenschülerin wird von der Direktorin wegen eines verbotenen Dates mit einem jungen Mann konfrontiert. Doch die enttarnt in einem Gegenangriff die Doppelmoral der Schulleiterin. Und die Dame mit dem Hündchen findet am Ende doch das Menschliche im Beamten. Dennoch ist der Grundton etwas zu ausweglos — schließlich suchen und finden die Iraner*innen angesichts rigider Regeln ihre Freiräume: Hundehaltung ist hip, im Underground gedeihen Beziehungen, Partyleben und Popkultur. Doch die allgemeine Menschenrechtssituation, die Zahl von 834 Hinrichtungen im vergangenen Jahr, ist düster. Zum Schluss machen die Regisseure deutlich, dass dieses Regime alter Männer nicht ohne ein Erdbeben untergehen wird.

Neben Foucault ist die per­sische Lyrik eine Referenz, die diesen formal ebenso einfachen wie überzeugenden Film zu einer Schatz­truhe der Anspielungen macht. Der Filmtitel und die wiederholte Erdbeben-Metapher stammen von der 1967 jung verstorbenen, populären Avantgarde-Poetin und Filmemacherin Forugh Farrochzād. Die tätowierten Gedichte auf dem Leib des Fahrschülers hingegen sind einem hochaktuellen Dichter des 13. Jahrhunderts zuzuschreiben: Rumi, von der Orthodoxie oft verfemt, von Freidenkenden kultisch verehrt, schrieb überaus irdische Verse. 

(Ayeh haye zamini) IR 2023, R: Ali Asgari, Alireza Khatami, D: Bahman Ark, Arghavan Shabani, Servin Zabetiyan, 77 Min. Start: 11.4.