Wenn Klang zur Performance wird: ORBIT Festival, Foto: José Caldeira

Die große Freiheit

Klang trifft auf Körper, Klassik auf Experimente: Vom 12. bis zum 15. April wird mit dem ORBIT ­Festival in Köln ein schillerndes Szenetreffen des freien Musiktheaters ausgerichtet

Schauspielkunst, Performance, Tanz, alles vereint vor dem Horizont des aktuellen Musiktheaters: Seit zwei Jahren gibt es für diese Kombination in Köln ein Zuhause, das ORBIT Festival. Sandra Reitmayer ist Künstlerin und Regisseurin und teilt sich gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Komponistin Christina C. Messner, die Stelle der künstlerischen Leitung des Festivals.

Das Musiktheater mag sie wegen seiner Diversität, ist fasziniert von der künstlerische Genese, der ersten Konzeption bis zum Endformat, wenn sich die verschiedenen Sparten auf Augenhöhe begegnen. »Beim freien Musiktheater sind im Gegensatz zur klassischen Oper oder dem Musical die Abgrenzungen und Zuständigkeiten viel durchlässiger«, sagt sie. »Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Sparten ist ausgeprägter, Komposition, Regie und Ensemble sprechen mehr miteinander und denken sich gegenseitig mit.« Auch daran merkt man, wie wichtig Sandra Reitmayer Kollektivarbeit und der gemeinsame Austausch ist. »Köln hat eigentlich eine lange Tradition im Musiktheater, aber was gefehlt hat, war eine Plattform. Es gibt hier schließlich kein spezifisches freies Haus dafür. Genau diese Plattform wollten wir in Form eines Festivals schaffen und haben ORBIT kreiert.«

Um das Programm für die diesjährige Ausgabe zu kuratieren haben Sandra Reitmayer und Christina C. Messner einen Aufruf in die freie Musiktheaterszene gestartet: Was sind eure Herzensprojekte? Welche eurer vergangenen Produktionen würdet ihr gerne wieder auf die Bühne bringen? Welche Stücke haben euch zuletzt umgehauen? Den Startschuss des Festivals am 12. April macht die Aufführung »Hark!«. Der Aufruf, zu horchen, kommt von Luísa ­Saraiva und Senem Gökçe Oğultekin. Sie bringen mit musikalischer Unterstützung von Peter Rubel und Nathan Bontrager dem Publikum ihre Liebe zu barocker Musik nahe und präsentieren Henry Purcells »Hail! Bright Cecilia« mit Libretto von Nicolas Brady als Lernstück für das aufmerk­same Hören.

Kontrastreich folgt darauf das Konzert des Rappers und Performancekünstlers Der Täubling mit seiner charakteristischen Hasenmaske, die an Donnie Darko erinnert. Dessen düstere Exzentrik und das ansteckende Gefühl bei seinen Live-Shows, nachhaltig verstört zu werden, machen sie zu einer denkwürdigen Erfahrung. Vor allem wenn der Musiker sein Publikum in einem Akt grotesker Provokation mit Zitronen bewirft.

Das Festival findet allerdings nicht nur im Saal statt, hier wird sich auch der öffentliche Stadtraum zunutze gemacht. Der Ebertplatz ist mittlerweile eine Freiluftgalerie für sich, und die geschäftige Masse, die die Unterführung tagtäglich durchkreuzt, hat sich in den letzten Jahren an künstlerische Interventionen gewöhnt. In der Ebertplatzpassage wird die Sängerin Anna Clare Hauf gemeinsam mit dem Ensemble MAM.Manufaktur für aktuelle Musik in ­einem bunten Zug mit »21 Songs in a Public Surrounding« die Öffentlichkeit teilhaben lassen. Im Verlauf des Festivals hat das Publikum zudem Gelegenheit, Symposien und Masterclasses zu den Themen Positionen und Identitätsfindung im Musiktheater ­sowie eine Speaker’s Corner zu ­besuchen.

Beim freien Musik­theater sind im Gegensatz zur klassischen Oper oder dem Musical die Zuständigkeiten viel durchlässigerChristina C. Messner

Die Kommunikationsebene von Ensemble und Zuschauer*innen wird auch in »Proviant« für das Stück genutzt. Hier inszenieren die Schauspielerin Fiona Metscher und die Komponistin Oxana Omelchuk vom *POLAR PUBLIK Kollektiv ein Abendessen mit 15 untereinander sich fremden Menschen, die sich um eine Tafel auf der Bühne scharen und zu vorgegebenen Themen unterhalten. Die dabei entstehenden Gespräche werden von Oxana Omelchuk aufgenommen und noch während der Aufführung von ihr zu fünfminütigen Klangkreationen verarbeitet.

ORBIT endet mit einem Knall für die Sinne — und einer wichtigen Botschaft. Im Kulturbereich sind inklusive Veranstaltungsformate immer noch stark unterrepräsentiert. Man merkt in der ­Theaterlandschaft aber doch, dass sich dem Thema zumindest verstärkt angenähert wird. Dass gerade im Musiktheater der letzte große Programmpunkt des Festivals »A Singthing« sich dezidiert an ­hörendes und gehörloses Publikum richtet, unterstreicht diesen Trend. Das Kollektiv »[in]operabilities« kooperiert beim ORBIT ­Festival mit der Kölner Oper und stellt unter der Leitung von Ben­jamin von Bebber und Leo Hofmann berühmte Opern in neue Zusammenhänge. Der Vorstellung geht eine Tastführung und eine Einleitung durch die Künstler*­innen voraus, neben der Lautsprache wird die Veranstaltung noch durch Gebärdensprache und Audiodeskription begleitet. Mit stark expressiver Mimik und Gestik der Künstler*innen, Lichteffekten und Vibrationsrhythmen hinterfragen die Darsteller*innen ihre eigenen Bezüge zur Kunstform. Dadurch wird das Stück multisensorisch zugänglich und unterstreicht zum Ende des Festivals noch einmal die Vielseitigkeit von musikalischer Kommunikation.

Ein paar Tage, bevor es losgeht, werden Workshops angeboten. Die Musiktheaterregisseurin Vendula Nováková, der Pianist ­Daniel Gerzenberg und der Komponist für zeitgenössische klassische Musik Daniel Moreira sind ­allesamt Koryphäen auf ihren ­Gebieten und vermitteln den Teilnehmenden, wie sie ihre Ideen für Produktionen konzeptualisieren können. Auch geht es darum, die eigene Performance und Bühnenpräsenz zu stärken.

»Die Workshops richten sich an interessierte Musiker*innen und Komponist*innen, die den Bereich der darstellenden Künste gerne mehr in ihre Arbeit einbinden möchten. Dieser Bereich wird in der musikalischen Ausbildung der Hochschulen sonst sehr wenig beachtet. Dabei eröffnet das für die Teilnehmenden viele wichtige Perspektiven«, berichtet Sandra Reitmayer. Die Ausbildungssituation sei noch sehr auf die staatlichen Betriebe ausgerichtet, die Freie Szene werde häufig nicht mit einbezogen.

Trotzdem stärken sich die Strukturen insgesamt. Gleich mehrere Festivals haben sich neben ORBIT formiert, dazu gehören das »Bam! Festival« in Berlin oder »Stimme X« in Hamburg. Hilfreich sind auch Vereine wie ON — Neue Musik Köln e.V., der beim ORBIT Festival als Veranstalter fungiert und unterstützt. 2022 ist auch durch die Mitwirkung von Reitmayer das Netzwerk Freies Musiktheater entstanden, das die Szenen bundesweit verknüpft und als Interessenvertretung wirkt. Eine positive Entwicklung, die Reitmayer bestätigen kann: »Im Musiktheater hat sich in den letzten Jahren viel getan.«

ORBIT Festival, orbit.cologne, 12.–15.4.