Blickt der Vergangenheit ins Auge: Traudl Bünger, Foto: Maya Claußen

Papa war ein Rechtsterrorist

Traudl Bünger erzählt in »Eisernes Schweigen« ein unbekanntes Kapitel ihrer Familiengeschichte. Es ist zugleich ein verdrängter Teil deutscher Geschichte

»Opa war kein Nazi« heißt eine ­Studie aus den Nullerjahren. Sie untersuchte, wie in Familien über die NS-Zeit und die Schuld der Familienmitglieder gesprochen wird, und sie kam zu dem Schluss, dass in vielen Fällen deren aktive Beteiligung am Nationalsozialismus im Laufe der Jahre bagetellisiert und verfälscht wurde. Auch in der Familie der Kölner Autorin Traudl Bünger hat sich ein solches Gedächtnis herausgebildet: Großvater Heinrich war ein Mitläufer, der LKWs gefahren hat. Aber dem Klischee zum Trotz ist dies wahr gewesen. Denn die überzeugten Rechtsextremen der Familie Bünger waren seine Kinder, die Zwillinge Heinrich und Fritz, geboren im Jahr 1935 und im Familiengedächtnis noch vernachlässigt.

Heinrich, der Vater von Traudl Bünger und ihr Onkel Fritz haben im Jahr 1962 gemeinsam mit anderen einen Bombenanschlag auf einen Bahnhof im norditalienischen Verona verübt. Diese Entdeckung macht Tochter Traudl, als sie nach dem Tod ihres Vaters ­beginnt, seinen Nachlass zu sortieren. Ein Exemplar von »Mein Kampf« findet sie dort, einen SS-Dolch, Briefe an ihre Mutter und an den Anwalt ihres Vaters — und drei Taschenuhren, umgebaut zu Zeitzündern. »Über die Geschichte, die ich hier schreibe, hat mein Vater nicht gelogen. Er hat geschwiegen«, schreibt Bünger im ersten Kapitel ihres neuen Romans »Eisernes Schweigen«. Und auf den folgenden 380 Seiten ­versucht sie, dem Schweigen die Form einer Erzählung zu geben.

Diese beginnt in den späten 50er Jahren, als ihr Vater und Onkel sich im »Bund Nationaler Studenten« engagieren, der nach dem Verbot der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei eine wichtige Rolle bei der Etablierung der Neuen Rechten in der BRD spielen sollte. Damals war die Südtirol-Frage ein wichtiger Bezugspunkt für eine rechtsextreme Agenda. Südtirol galt als ein Kampfplatz, an dem sich »die Deutschen« gegen eine vermeintliche »Fremdherrschaft« gewehrt haben. Nach dem Ersten Weltkrieg war die ­Region Italien zugesprochen worden, nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich die deutschsprachige Bevölkerung dort wieder Hoffnungen, dass ihr Gebiet zurück an Österreich fallen werde. Vor diesem Hintergrund begingen Separatisten ab 1956 Sprengstoffanschläge, mit denen Symbole der italienischen Herrschaft attackiert wurden. Eine besondere Bedeutung hat dabei eine Reihe von ­Anschlägen auf Strommasten im Jahr 1961 — ein Jahr, bevor die Bombe explodierte, die Heinrich und Fritz Bünger gelegt haben. Auch bei diesem Anschlag, so erzählt es zumindest Fritz Bünger im Roman, sollte niemand zu Schaden kommen. Die Bombe sollte in der Nacht in der Gepäckaufbewahrung explodieren. Aber weil sich der Zünder verstellte, ­explodierte sie am Nachmittag und tötete ­Gaspare E., der dort ­arbeitete. ­Viele andere Menschen wurden verletzt.

Die Südtiroler Separatisten distanzieren sich von dem Anschlag, aber erst einige Jahre später geraten die Bünger-Brüder ins Visier der Ermittlungsbehörden. Heinrich verbringt 1966 sechs ­Monate in Untersuchungshaft im Klingelpütz in Köln, sein Bruder Fritz setzt sich nach einem bizarren Fernsehinterview nach Südafrika ab. 1980 wird ihnen endgültig der Prozess gemacht; er endet mit einem Freispruch wegen Verfahrensfehlern.

Traudl Bünger erzählt diese Ereignisse nicht als historifizierten Roman, sondern mit sich selbst als Hauptfigur. Sie besucht Archive und sichtet Akten von ­Gerichten, Polizei und der Stasi. Sie durchforstet das antifaschistische Archiv Apabiz auf der Suche nach Schriften des Bunds nationaler Studenten und spricht mit Expert:innen über Rechtsextremismus. Und immer wieder steht sie mit Kuchen vor der Haustür ihres Onkels Fritz, um ihn zu seiner ­Vergangenheit zu befragen. Fritz Bünger erweist sich als auskunftsfreudig und hilfsbereit — im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich, der immer über seine Taten geschwiegen hat. Dieser wird auch im Verlauf der Recherche nicht zu einer historisch verbürgten Figur, sondern bleibt in weiten Teilen das Produkt der Fantasie seiner Tochter. Heinrich Büngers Bild ist verwaschen durch die Erinnerungen einer Person, die ihn trotz aller persönlichen Konflikte geliebt hat und sich nun fragen muss, was von diesen Gefühlen übrig bleiben kann. Immer wieder schildert Traudl Bünger Anekdoten aus ­ihrem Familienleben: der Vater als lösungsorientierter Tüftler, der Vater als schelmischer Witzeerzähler, der Vater als autoritärer Klimawandelleugner. Aber so richtig deutlich wird ihr nicht, ­warum ausgerechnet er — der karrierebewusste Chemiker — zum Rechtsterroristen geworden ist.

Was soll Bünger tun, wenn die Wirklichkeit einem Krimi aus der Bahnhofsbuch­handlung ähnelt?

Um diese Lücke zu füllen, verwebt Bünger eigene Erinnerungen mit fiktionalisierten Episoden rund um den Bombenbau und seine Nachwirkungen. Diese kurzen Prosakapitel lockern dabei immer wieder die verdichteten Erkenntnisse auf, die Bünger aus ihrer Archivarbeit destilliert. Denn so erkenntnisreich diese auch ist, so ­ermüdend ist es, den Bruchstücken aus den Akten beim Lesen zu folgen. Da wirkt es fast erleichternd, wenn Bünger die Fahrt ihres Vaters, ihres Onkels und zwei ihrer Komplizen nach Südtirol schildert. Die Terroristen entpuppen sich dabei als Abziehbilder von Burschenschaftsmännlichkeit: pflichtbewusst,  grobschlächtig, und überzeugt von ihrer deutschnationalen Sache. Auch spätere Episoden, die Bünger in den Apparaten der DDR-Bürokratie ansiedelt, sind nicht frei von Klischees: die Apparatschiks entpuppen sich als Faktenverdreher, die zugleich gerissen und tollpatschig sind, und ihre Untergebenen ­handeln aus naiver Überzeugung.

Aber was soll Bünger auch tun, wenn die Wirklichkeit einem Bahnhofsbuchhandlungskrimi oftmals zum Verwechseln ähnelt? Als Manfred Schröder, einer der Komplizen, nach einem fehlgeschlagenen Bombenanschlag in der DDR festgenommen wird, wird er zum Spielball der Propaganda. Die DDR-Führung stellt ihn als Agenten des BRD-Verfassungsschutzes dar, und als ihm in der BRD gemeinsam mit den Bünger-Brüdern der Prozess gemacht wird, nutzt die Verteidigung seine Festnahme »in der Zone«, um ­seine detaillierten Ausführungen als Sowjetpropaganda zu framen.

In ihrer Absurdität erinnert diese Verteidigungsstrategie an die Ausreden der Beteiligten nach dem Potsdamer Treffen zwischen AfD, Werteunion und Identitären. Und wenn Bünger schildert, wie die bundesdeutschen Behörden den Bombenattentätern immer wieder nahe kommen, aber die Ermittlungen aus Zauderei, Ignoranz oder politischen Gründen ins Stocken geraten, wird eine Kontinuität zum Verhalten der Strafermittlungsbehörden und Geheimdienste rund um den NSU deutlich. Das ist der literarische Trick von »Eisernes Schweigen«. Es ist ein Familienroman, der ein lange verdrängtes Stück deutscher Geschichte zum Gegenstand hat. Aber ist es auch ein Text, der bis in unsere Gegenwart nachhallt.

Mi 17.4., Literaturhaus, 19.30 Uhr, Traudl Bünger: »Eisernes Schweigen«, KiWi, 384 Seiten, 24 Euro