Schwierige Diagnose

Auch in Köln organisieren sich Menschen, die sagen, durch die Corona-Impfung schwer geschädigt worden zu sein. Was fordern sie — und was sagt die Wissenschaft dazu?

Wie so viele Geschichten beginnt auch diese mit einer ­E-Mail. Ein Leser hat sie uns geschrieben. Er erzählt darin, wie er nach seiner Corona-Impfung eine Lungenembolie erlitten habe, die zuerst nicht diagnostiziert worden sei. Seit zwei Jahren leide er nun an den Folgen dieser Fehldiagnose. Bei der Redaktionskonferenz sprechen wir über die E-Mail und sind erstmal unschlüssig. Klar, auch die Covid-Impfungen können langfristige Nebenwirkungen haben. Das wissen wir. Aber klar ist auch, dass bewusst Fehlinformationen über vermeintlich negative ­Effekte der Corona-Impfstoffe gestreut werden. Erst im Februar dieses Jahres wurde etwa vor dem Landgericht Frankenthal in Rheinland-Pfalz eine Klage gegen Biontech verhandelt. Die Klägerin hatte behauptet, die Impfung habe bei ihr »V-AIDS« (Vakzin-AIDS) ausgelöst. Sie hat den Prozess verloren, ihre vermeintliche Krankheit existiert nicht. Auch andere Klagen gegen Hersteller von Corona-Impfstoffen waren bislang erfolglos. Nach einigem Abwägen entscheiden wir uns dafür, das Thema ­anzurecherchieren.

Erste Station ist der Rudolfplatz. Mitte Januar demonstrieren etwa 100 Personen im Schnee für eine bessere Versorgung bei Impfschäden. Einige Mediziner sprechen über den Stand der Forschung bei Long Covid und dem »Post-Vac-Syndrom«, die oft dieselben Symptome mit sich bringen. Andere Redebeiträge lassen mich jedoch die Augenbrauen hochziehen: Eine Neurologin etwa spricht davon, dass vollständige Heilung nur »in
der Transzendenz« stattfinden könne. Aber die Demo wirkt im Großen und Ganzen sachlich. Die üblichen ­Kölner Verdächtigen aus der Querdenkerszene sind nicht zu sehen,  oder werden gebeten, die Demo zu verlassen.

Obwohl ich bei zehn Ärzten war, bin ich heute nicht schlauerImpfgeschädigter aus Köln

Wenige Tage später treffe ich mich mit dem Leser in der Redaktion.  Als Musikpädagoge habe er ab dem Sommer 2021 an einem Projekt gearbeitet, bei dem er mit Menschen aus einer Risikogruppe zusammentreffen würde, erzählt er. Wegen einer Autoimmunerkrankung habe er sich eigentlich nicht impfen lassen wollen. Die Ständige Impfkommission hat die Corona-Impfung auch für Autoimmunerkrankte empfohlen — allerdings wurde schon früh diskutiert, ob die Einnahme von Immunsuppressiva nicht eventuell die Wirksamkeit der Impfung schmälern könnte. »Die Situation hat mich gedrängt«, sagt unser Leser, »wie soll ich ohne Impfung arbeiten?« Ende Oktober 2021 ließ er sich impfen.

Kurz darauf habe er erste Symptome verspürt, etwa ein Engegefühl und starke Gefühllosigkeit auf der Brust. Ein Besuch im Krankenhaus endete ohne Befund. Im Dezember sei er schließ­lich in der Notaufnahme des St. Vincenz-Hospitals in Nippes gelandet, wo eine Lungenembolie festgestellt worden sei. Nach einer Behandlung mit Blutverdünner sei er wieder entlassen worden. »Obwohl ich bei zehn Ärzten war, bin ich heute nicht schlauer«, sagt er. Die nötigen Untersuchungen hätten Geld gekostet, das er nicht habe aufbringen können, weil er im ersten Jahr nur eingeschränkt arbeiten konnte. Das habe sich zwar mittlerweile gebessert, der Fortschritt, den er mit der alternativmedizinischen Behandlung seiner Autoimmunkrankheit gemacht habe, sei jedoch durch die Impfung zerstört worden. Hilfreich sei der Besuch einer Selbsthilfegruppe gewesen, sagt er. Ich frage ihn, ob er einen Kontakt herstellen kann.

Einige E-Mails später haben wir einen Termin gefunden und Ende Februar sitze ich in einer Runde mit etwa einem halben Dutzend Menschen, die Teil der Selbsthilfe­gruppe »Post-Vac« sind. Ich kenne ihre Namen, aber weil sie keine Personen öffentlichen Interesses sind, habe ich mich entschlossen, sie zu anonymisieren. Sie berichten mir ausführlich von Symptomen, die bei ihnen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung aufgetreten seien: Konzentrations- und Schlafstörungen, Schädigungen der Nerven, chronische Müdigkeit, Herzprobleme, Veränderung bei der Immunabwehr. Die Symptome sind vielfältig, nicht alle sind bei allen Teilnehmenden aufgetreten. Fast alle haben mehrere Arztbesuche hinter sich, oft ohne Ergebnis oder Behandlung. Und sie alle erzählen, dass sie sich oft nicht ernstgenommen gefühlt haben, wenn sie beim Arztbesuch ihre Beschwerden mit der Corona-Impfung in Verbindung gebracht haben. Einige berichten, dass ihnen erst durch den Besuch von Post-Vac-Websites und in Gesprächen mit Freunden klar geworden sei, dass sie einen Impfschaden hätten. Und auch wenn alle betonen, dass sie keine Gegner von Impfungen seien, erwähnt der Großteil, dass sie sich zur Corona-Impfung gedrängt gefühlt haben.

Die Gruppe hat klare Forderungen: Sie wünscht sich einen Ausbau der Versorgung für Post-Vac-Geschädigte. Auch sollten die Untersuchungen, um einen Impfschaden festzustellen, von den Krankenkassen übernommen werden. Besonders groß ist die Enttäuschung über die Gesundheitspolitik in Bund und Land: Am Anfang sei auch Impfgeschädigten Hilfe versprochen worden — mittlerweile würde sich die Politik jedoch auf Post-Covid-Patient:innen fokussieren. »Warum gibt es null Euro für Post-Vac-Forschung?«, fragt eine Teilnehmerin.

Und noch etwas anderes wird immer wieder gefordert: Transparenz. Besonders die Arbeit des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) steht in der Kritik. Das PEI ist für die Arzneimittelsicherheit zuständig. Es hat mit dem Auslaufen der Corona-Maßnahmen im März 2023 keine Sicherheitsberichte mehr veröffentlicht. Es findet aber weiterhin ein Monitoring der Verdachtsfälle statt, eine Liste der gemeldeten Fälle samt Nebenwirkungen ist auf der Website des Insituts abrufbar. Im Bericht ist von 338.333 Verdachts­fällen nach einer Covid-Impfung die Rede, 55.486 davon gelten als schwerwiegend. Bis Ende März 2023 sind 192.208.062 Impfdosen verabreicht worden, seitdem sind etwa 4,5 Millionen dazu gekommen. In unserem Gespräch taucht immer wieder der Verdacht auf, dass es mehr Fälle mit Nebenwirkungen geben müsse. Der Meldevorgang zur Erfassung sei zu kompliziert, viele Ärzte würden ihn deshalb nicht durchführen. Und das Institut selbst gehe davon aus, dass nur sechs Prozent der Nebenwirkungen bei Arzneien gemeldet werden, schreibt mir eine Teilnehmerin nach dem Treffen per E-Mail.

»Die Daten sind aus den Jahren 2002 und 2010«, sagt das Paul-Ehrlich-Institut dazu. Damals war das Online-Meldesystem für Nebenwirkungen noch nicht aktiv. Die Daten würden sich zudem auf pharmazeutische, chemisch-synthetische Arzneimittel beziehen. Für diese Arzneimittel gäbe es keine Meldepflicht der Nebenwirkungen durch Ärzte wie bei den Covid-19-Impfstoffen. Laut dem Infektionsschutzgesetz sind Ärzte zur Meldung einer Impf-Nebenwirkung verpflichtet, dem PEI lägen »keine quantifizierbaren Informationen« vor, ob diese das Meldeverfahren als zu aufwändig empfänden. Das Meldeverfahren sei zudem nicht die einzige Quelle zur Überwachung der Sicherheit von Impfstoffen, so das ­Institut. Auch Verdachtsfallmeldungen aus dem Europäischen Wirtschaftsraum, die bei der Europäischen Arzneimittelbehörde eingehen, würden zur Risikobewertung der Covid-19-Impfstoffe herangezogen.

Impfschäden stellt das PEI nicht fest. Denn ein Verdachtsfall gilt erst nach einem erfolgreichen Antrag auf Anerkennung als Impfschaden. In Köln ist dafür der Landschaftsverband Rheinland (LVR) zuständig. Bis zum 10. März sind dort 1070 Anträge zur Covid-19-Impfung eingegangen: 58 wurden anerkannt, 342 abgelehnt, 26 ­erledigten sich während der Bearbeitung. Die restlichen 644 Anträge werden noch geprüft. »Aktuell liegt die durchschnittliche Bearbeitungsdauer bei elf Monaten«, so der LVR. Dafür gibt es mehrere Gründe. Seit 2021 seien »200 mal mehr Anträge eingegangen als in den Jahren ­zuvor,« sagt ein Sprecher des LVR. Das Personal sei »nicht im gleichen Umfang« mitgewachsen. Hinzu käme, dass der Forschungsstand über mögliche Impfnebenwirkungen immer noch niedrig sei. Zudem sei es schwierig, geeignete Gutachter:innen zu finden. Diese sind notwendig, da der Antrag einer individuellen Prüfung unterliegt. Die Krankengeschichte des Verdachtsfalls spiele dabei eine Rolle, man müsse zudem schauen, welche Diagnosen schon vor der Impfung vorgelegen haben, erklärt der Sprecher. Es müsse einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Beschwerden und Impfung geben, ebenso werde geprüft, ob die Erkrankung in der wissenschaftlichen ­Literatur als Nebenwirkung der Impfung gewertet wird.

Als ich gegen Ende des Treffens die Mitglieder der Selbsthilfegruppe frage, ob jemand von ihnen einen erfolgreichen Antrag gestellt hat, antwortet niemand mit »Ja«, auch unser Leser nicht. Sein Antrag wurde abgelehnt.

Es gibt bei Corona viel PseudowissenschaftBernhard Schieffer, Kardiologe

Mich macht das stutzig, zumal auch einige Behauptungen, die während des Treffens getätigt wurden, sich als problematisch herausstellen, als ich sie danach recherchiere. Die Gruppe hat mir etwa zwei Pathologen genannt, deren Untersuchungen auf einen höheren Anteil an Impftoten hinweisen würden. Beide Untersuchungen lassen sich jedoch aufgrund der Stichprobe nicht verallgemeinern. Einer der Forschenden, Peter Schirmacher (Uni Heidelberg), hat dies für seine Studie im Interview mit der Welt selbst erklärt. Es ist nur ein Beispiel für die Halbwahrheiten, die ich zu hören bekomme.

Und dann ist da noch der Düsseldorfer Arzt, von dem mir mehrere Gruppenmitglieder Positives berichten. Er ist in der Vergangenheit auf dem Parteitag der Querdenker-Partei »Die Basis« aufgetreten. Auf seiner Homepage weist er potenzielle Patient:innen an, in seiner Praxis keine Maske zu tragen. Die Impfung sei »ein Eingriff in unsere körpereigenen Gene«, behauptet der Arzt in seinem Patientenbrief — eine Fehlinformation. Für seine Behandlung des »Post-Vac-Syndroms« bezieht er sich auf einen Münchener Heilpraktiker. Auch dieser spricht von ­»V-AIDS« — dem »Vakzin-AIDS«.

All das habe ich ihm Hinterkopf, als ich mit Bernhard Schieffer telefoniere. »Es gibt viel Pseudowissenschaft zu Corona«, sagt der Medizinprofessor. Schieffer ist ­Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Gießen-­Marburg. In der dortigen interdisziplinären Post-Covid-­Ambulanz werden unter anderem Menschen mit Impfschäden behandelt. »Die Symptome nach einer Corona-­Infektion sind die gleichen wie bei einer Nebenwirkung nach einer Impfung«, sagt Schieffer. »Der Unterschied ist, dass die Nebenwirkung meist einen klar definierten ­Beginn hat.« In der Praxis bedeutet dies, dass beide Gruppen seiner Patient:innen die gleichen Labortests durchlaufen. Auch die Krankenkassen würden dort keinen Unterschied machen. Schieffer sagt, dass eine Corona-Impfung das Risiko einer Post-Covid-Erkrankung ­reduziere. Er ­berichtet von einem »hohen Kommunikationsniveau« ­zwischen den »gut vernetzten« Post-Vac-Gruppen und von Schwierigkeiten, die er und sein Team mit den Nebenwirkungen der Eigenmedikation bei vielen Patienten haben, die sich mit Impfschäden vorstellen.

»Die Unzufriedenheit ist riesig«, sagt Schieffer irgendwann. Es gäbe keinen Test, der Impfschäden oder Post-Covid nach Infektion schnell beweisen könne. Und es gäbe kaum Behandlungsmethoden. Die Bundesregierung stellt für die Forschung an Long Covid und dem ähnlich gelagerten ME/CFS 61,7 Millionen Euro bereit. Schieffer ergänzt, dass die Ausschreibung der Projekte durch das Bundesforschungsministerium noch nicht erfolgt sei. ­Aktuell kann die Marburger Post-Covid-Ambulanz nur wenigen der Betroffenen helfen. Dort können etwa zehn ­Patient:innen am Tag behandelt werden, die Termine sind bis Ende 2025 ausgebucht. Dabei sei schnelle Hilfe nötig, so der Kardiologe: »Je länger die Erkrankung läuft, desto schwieriger ist es, den vorherigen Zustand wieder zu ­erreichen und die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen.« Für diejenigen, die an den Symptomen leiden, ist das ­keine gute Perspektive — egal, ob sie einen Impfschaden haben oder nicht.