Mustapha und Seydou auf dem Weg durch die Sahara in »Ich Capitano« © Greta De Lazzaris / X Verleih AG.tif

»Das Streben nach einem besseren Leben ist völlig legitim«

Matteo Garrone über seinen Migrationsfilm »Ich Capitano«

Herr Garrone, Ihr Film »Ich Capita­no« handelt von der Flucht zweier senegalesischer Jugendlicher über Libyen nach Europa. Warum wollten Sie diese Geschichte erzählen?

Ich hatte das Gefühl, dass es bei den Berichten über Flucht immer einen Teil gibt, der kaum bekannt ist. Aus den Nachrichten kennen wir die überfüllten Schlepperboote, wir wissen von den Toten in Mittelmeer und wie viele gerettet werden konnten. Aber wir ha­ben keine Bilder von dem, was zuvor passiert, dem beschwerlichen Weg. Wir haben uns an die Meldungen gewöhnt, die Geflüchteten werden fast zu abstrakten Zahlen. Mit dem Film wollte ich ein paar dieser »Zahlen« zeigen, die Menschen und ihre Leben, ihre Träume und Familien, die sie zu­­rück­lassen mussten. Also haben wir die Kamera umgedreht, von Afrika auf Europa gerichtet, um diesen Teil der Flucht aus ihrer Perspektive sichtbar zu machen. Ich wollte dem Publikum ein Gefühl dafür geben, was es heißt, alles hinter sich zu lassen und sich auf diese lebensgefährliche Reise ins Un­gewisse zu begeben.

Wie haben Sie recherchiert?

Jeder Teil der Geschichte beruht auf Erfahrungen, die mir Menschen persönlich erzählt haben. Ich habe mit zahlreichen Leuten gesprochen, denen die Flucht gelungen ist und die heute in Italien oder Belgien leben. Sie halfen mir vom Moment an, als wir das Skript schrieben bis zum Dreh. Es sind ihre Erfahrungen, aus denen ich mit meinem Handwerk als Regisseur eine Geschichte formte. Auch wenn es ein anderer Blick ist und eine mir fremde Sprache, Wolof, bleibt es ein Matteo-Garrone-Film. Ich erkenne mich in jeder Einstellung wieder. Zugleich spüre ich eine große Verantwortung, die rea­len Erfahrungen so ehrlich und geradeheraus wie möglich auf die Leinwand zu bringen.

Aus den Nachrichten kennen wir die überfüllten Schlepperboote, wir wissen von den Toten in Mittelmeer. Aber wir haben keine Bilder von dem, was zuvor passiertMatteo Garrone

Wie führt man Regie, wenn man die Dialoge nicht versteht?

In den ersten Wochen konnte ich beim Dreh nicht beurteilen, was die Darsteller sagten und wie sie es sagten. Aber dann begann ich am Tonfall zu erkennen, ob jemand gut spielte. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung, weil ich ein Fremder in ihrer Kultur war. Ich wollte die Fallstricke und Klischees vermeiden, wenn Regisseure in einem anderen Land drehen. Wir verbrachten viel Zeit zusammen, führten lange Gespräche und ich achtete auf kleinste Reaktionen. Die Szenen sollten so authentisch wie möglich sein und zugleich etwas Märchenhaftes haben. Für mich hat die Reise der Jungs etwas von Homers »Odyssee«, und so habe ich versucht, Elemente und Stimmungen aus meinen früheren Filmen zu kombinieren, das Fantastische aus »Pinocchio« mit Dokumentarischem wie aus »Gomorrah«.

Wie haben Sie Ihre beiden Hauptdarsteller gefunden?

Wir haben im Senegal nach Jungs gesucht, die wie die Protagonisten im Film von einem Leben in Europa träumen, aber nur eine ungefähre Vorstellung davon haben. Mustapha war in einer Theatergruppe an seiner Schule und hat über eine Million Follower auf TikTok. Seydou stammt aus einer Kleinstadt bei Dakar, seine Mutter hatte ein bisschen Schauspielerfahrung, er wollte es auch probieren. Beide Jungs kennen den Westen aus den Sozialen Medien. Für sie ist Europa ein Sehnsuchtsort, an dem die Men­schen erfolgreich, frei und wohlhabend sind. Das fand ich interessant, weil es einen anderen Migrationskontext aufmacht, es geht nicht um Flucht vor Krieg und Klimakatastrophen, sondern um das Streben nach einem besseren Leben. Das ist völlig legitim.

Sie haben im Senegal gedreht. Wie herausfordernd war das, abgesehen von der Sprachbarriere?

Ein bisschen, wie einen Film im Neapel nach dem Zweiten Weltkrieg zu drehen, von wo ja auch viele in den wohlhabenderen Norden migriert sind. Die Menschen sind arm, aber voller Lebensenergie. Deswegen wollte ich auch das vitale Dorfleben zeigen, der erste Teil des Films hat eine Leichtigkeit. Es wirkt zunächst fast wie ein Abenteuerspiel, was die Jungs vorhaben, aber es ist lebensgefährlich. Die Reise kann zur Hölle werden. Ich wollte einen Film, den sich Gleichaltrige anschauen, die sich mit den Jungs und ihren Träumen identifizieren. Und dabei merken, was für ein privilegiertes Leben sie selbst haben.