Die schrecklich schöne Zeit

Ästhetik, Sex und Politik: Zwei Kölner Ausstellungen zeigen das »Pariser Leben« um 1900

Die Frau in dem engen, modischen Kleid zieht alle Blicke auf sich. Sie wirbt, wie üblich, für etwas, das mit ihrem Aussehen nur wenig zu tun hat: eine neue Beleuchtungstechnik – mit Sicherheitsgas, auf einem Plakat von Jules Chéret in Paris 1894.
Schon knapp vierzig Jahre vorher richtet Chéret eine Druckerei mit den modernsten Lithopressen ein und macht mit seinen Plakatdrucken die Straßen von Paris zum Ausstellungsraum. Während heute Plakatwerbung in der allgemeinen Reizüberflutung der Medien all zu oft untergeht, wird die Druckgrafik Ende des 19. Jahrhunderts als neue, öffentlichen Ausdrucksform der hohen Kunst bewundert und gefeiert. Denn Plakatwerbung fällt auf: Paris hat zu dieser Zeit ein einheitliches architektonisches Bild, nachdem Baron Haussmann unter Napoleon III. das Zentrum der Stadt zu einer modernen Metropole mit gleichförmigen Mietshäusern und großzügigen Boulevards umgestaltet hat.

Französische Kunst in Köln

In der Ausstellung »Pariser Leben« im Wallraf-Richartz-Museum, die durch eine Kooperation mit dem Käthe-Kollwitz-Museum sinnvoll ergänzt wird, kann man jetzt anhand von Druckgrafiken und Handzeichnungen diese aufregende Zeit erleben. Das Zweite Kaiserreich ist zusammengebrochen, das Bürgertum gewinnt an Macht, Künstler beginnen sich politisch zu äußern. Sie treffen sich am Montmartre, am Montparnasse und im Quartier Latin mit Dichtern, Studenten und Journalisten, diskutieren Gegenentwürfe zur Welt der Großstadtbourgeoisie und zur akademischen Kunst.
Auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten lösen die Impressionisten die Linie auf. Ihre Bilder werden zu einem Spiel aus Licht und Atmosphäre, vom Maler mit kleinen Pinselstrichen auf die Leinwand gebracht. Die Realisten sind sozialkritischer, wollen das weniger Schöne aufdecken, bis hin zur Provokation. Sie bedienen sich immer häufiger der Zeichnung, ein spontanes,
direktes Ausdrucksmittel, das für Sammler günstiger zu erwerben ist, und der Druckgrafik, die leicht vervielfältigt und unters Volks
gebracht werden kann. Édouard Manet druckt 1876 einen »Hanswurst«, der statt der hohen Mütze eine Art Dreispitz trägt. Nicht ohne Witz zeigt sich auch die Vorliebe für vergangene Zeiten und Stile, zum Beispiel in den Radierungen von Auguste Rodin um 1885: Unter einem Porträt von Victor Hugo lehnt vergnügt eine dralle, nackte Putte am Bildrand. Alexandre Théophile Steinlen thematisiert wesentlich direkter in seinen Bildern Tagelöhner, Bettler und die Proteste von Arbeitern.

Verkörperung unschuldiger Schönheit

Das breite Publikum und die öffentliche Meinung werden immer wichtiger, in der Kunst stehen der Alltag der Menschen und die gesellschaftlichen Spannungen im Vordergrund. Lieblingsthema vieler Künstler ist die Frau, mal als »Femme fatale«, Tänzerin oder Hure, mal als ideales positives Gegenbild – und dabei immer Fantasie des Mannes. Manet schockiert schon 1863 mit seiner »Olympia«: Der Betrachter nähert sich aus dem Blickwinkel des Freiers der nackten Frau im Bild, die die Züge einer stadtbekannten Hure trägt. Dagegen ist Auguste Renoirs »Stehende Badende« knapp dreißig Jahre später die Verkörperung unschuldiger Schönheit. Immer häufiger kann man den Frauen auf den Bildern unter den Rock gucken oder das Kleid einer Tänzerin scheint im nächsten Augenblick von der Brust zu rutschen.
Charles-Lucien Léandre thematisiert und karikiert in »Le Rire« und anderen Zeitschriften nicht nur Männerfantasien, sondern den Mann selbst. Sein »Menü zum Weihnachtsbankett« zeigt eine nackte, knöchrige Kellnerin mit wehenden Haaren, die ihre spiegeleierförmig zerfließenden Brüste auf einem Tablett serviert. Und auf seinem Titelblatt zu »Lieder der Großmütter« schleicht ein kleiner, dicker, kahlköpfiger Kerl mit feistem Grinsen hinter einer eleganten jungen Frau her.

Charmante Pariser Lebensart

Mit der Begeisterung für die Atmosphäre der Bars und Cafés entdeckt auch Henri de Toulouse-Lautrec, dessen Plakate bis heute als Inbegriff der charmanten Pariser Lebensart gelten, die Lithographie für sich. Von japanischen Vorbildern beeinflusst werden flächige Raumstruktur, knappe Linienführung, die Vernachlässigung aller naturalistischer Details und das Monogramm zu seinen Markenzeichen und machen ihn berühmt. Seine Theaterprogramme, Illustrationen und Plakate zeigen die Vergnügungsstädten der Halbwelt – und die sozialen Missstände der »Belle Époque«.
Auf den ersten Blick bekommt man in der Ausstellung einen guten Überblick über diese zerrissene »Schöne Zeit«. Neben den berühmten Künstlern lernt man auch unbekanntere kennen, deren Werke durch Veröffentlichungen in Zeitschriften und die hohen Druckauflagen aber damals populär und weit verbreitet sind. Wer genau hinschaut, entdeckt in vielen Details, versteckt und offen, witzig und böse, die Ambivalenzen, Spannungen und Abgründe der Zeit.

»Pariser Leben: Von Manet bis Toulouse-Lautrec – Französische Handzeichnungen und Druckgraphik 1860-1910«,
Wallraf-Richartz-Museum, bis 8.1.


»Toulouse-Lautrec und die Künstler des Montmartre – eine Sternstunde der Lithographie«,
Käthe Kollwitz Museum, bis 19.1.