Die rasende Reporterin

PJ Harvey hat sich als musikalische Essayistin neu erfunden

Anschnallen und los geht’s. PJ Harvey fährt mit einem Reporter der Washington Post durch ein kaputtes Viertel der Hauptstadt, er erzählt von den Umbrüchen in dieser Gegend. Der Krieg gegen die Armut entpuppt sich als Krieg gegen die Armen, Sanierung bedeutet Vertreibung, der Aufbau einer neuen Infrastruktur bringt die Verdrängung kleiner Läden mit sich. Die nüchterne Beschreibung des Journalisten geht nahtlos über in einen klassischen PJ-Harvey-Song – etwas derber Indie-Rock, der aber emotional so aufgeladen ist, dass er locker Anschluss an Soul- und Gospelmusik findet. Nahtlos heißt hier: Harvey baut die Ausführungen des Journalisten fast wörtlich in ihre Strophen ein. Dazu liefert der Filmemacher Seamus Murphy, mit dem sie in den letzten Jahren die Welt bereist hat, um auch auf visueller Ebene das Umschmelzen von sozialer Wirklichkeit in künstlerische Dringlichkeit zu dokumentieren, die entsprechenden Bilder von kaputten Straßen, armen Leuten — und Lebensfreude.

 

Der Song heißt »The Community of Hope«, und der Titel wie auch das Video sind doppeldeutig: Es ist Sarkasmus, aber auch ein Statement, dass sich die Leute in diesem Vorort der Weltmacht nicht unterkriegen lassen. Murphy blendet zu einer berührenden Szene über. Ein schwarzer Gospelchor übt Harveys Song ein, die Musikspur wird ausgeblendet und wir hören, dass der Chor nur ein plärrendes Smartfon vor sich hat, das den Song ziemlich dünn wiedergibt. Der Chor singt den Refrain nach, ganz lässig dirigiert der Leiter oder Vorsänger seine Leute, lässt seine wunderschöne Kopfstimme erklingen und schafft aus dem Stand eine bewegende Stimmung, die von den Frauen aufgenommen wird. Die zweite Umschmelzung hat stattgefunden: die Verwandlung eines Indie-Gassenhauers in transzendentale Musik. Und dann wird noch mal PJ Harveys Original eingeblendet, das jetzt kraftvoller, direkter, aufrichtiger klingt. Als wäre das ganze klebrige Glitzerzeug der Postmoderne abgewaschen.

 

»The Community of Hope« ist nur ein Song eines Albums, auf dem jeder Song nach diesen Prinzipien funktioniert: Sozialrealismus, künstlerische Reflektion, visuelle Dokumentation, Partizipation. PJ Harvey hat das Album bekanntlich in aller Öffentlichkeit geprobt und eingespielt, der Filmemacher Seamus Murphy war auf jeder Reisestation der Sängerin und Gitarristin dabei und hat sie in, wenn man so will, eindeutigen Bildern festgehalten. »The Hope Six Demolition Project«, im Frühjahr erschienen und ihr neuntes Album, ist ein Plädoyer für kritische Öffentlichkeit (wie schon der Vorgänger »Let England Shake«). PJ Harvey, die einstige Schmerzensfrau des Britrock — eine für die 90er Jahre charakteristische Künstlerfigur —, stellt sich damit in eine stolze Generation und gibt die derzeit überzeugendste Antwort, was noch — oder wieder – politische Musik heißen kann. Aber der Reihe nach.

 

CNN für Schwarze, so hatte Chuck D. seine Combo Public Enemy einst bezeichnet. Band und Künstlerkollektiv rücken an die Stelle von Medien, sie sind es jetzt, die eine kritische Öffentlichkeit, die Gegenöffentlichkeit repräsentieren. Das ist nicht vermessen: Nach dem langen Niedergang der Protestbewegung in den 70er Jahren sammelte sich der Widerstand gegen Krieg und Ausbeutung um solch autonomen Kerne. »The Final Cut«, das letzte klassische Album von Pink Floyd (1982), markierte den Bruch mit dem Bombast-Sound der späten 70er und berichtete in knappem lyrisch-journalistischen Stil von den Verwüstungen imperialistischer Kriege. Aber es war das Punk-Kollektiv Crass, das im Vereinigten Königreich fast im Alleingang den Protest gegen Thatchers Falkland-Feldzug (ebenfalls 1982) organisierte. In den USA war es zu der Zeit die Hardcore-Szene, die die Wahrheit über die Reagan-Ära aussprach: Mit Jello Biafra, vordergründig »nur« der Sänger der Dead Kennedys, betrat ein Agitator klassischen Zuschnitts die Bühne. Entsprechend trat Chuck D. vor einem zunächst fast ausschließlich schwarzen Publikum auf: Es war lupenreines Agitprop-Dokutheater vorgetragen zu komplexen Industrial-Funk-Rhythmen.

 

In Deutschland prägten Die Goldenen Zitronen diesen journalistisch-aufklärerischen, radikal öffentlichkeitsbezogenen Stil. Mit ihrem Album »Das bisschen Totschlag« (1994) verabschiedeten sie sich mitleidslos von Funpunk und Rumpelrock und lieferten eine geschlossene Darstellung der schwarzen Jahre nach der Wiedervereinigung ab. Jeder Song hat seine unverwechselbare, aggressive Klangfarbe. Dem Album war eine Zeitung beigelegt, das die Songs in Diskurs übersetzte. Wir sind noch nicht am Ende unserer Reihe: Seit zehn Jahren nutzt Damon Albarn, wie PJ Harvey einer der großen Protagonisten des Britrocks, seine Popularität, anderen Musiken, anderen Lebenswelten den ihnen gebührenden Raum zu bieten. Er avancierte zum prominentesten musikalischen Kritiker von Eurozentrismus, Abschottungswahn und Flüchtlingspolitik.

 

Das Musik-Film-Text-Performance-Kombinat PJ Harveys (und Seamus Murphys) führt diese Linie, die mit den abgenagten, ausgezehrten Punk-Song von Crass begann, fort. Harvey hat konzentriert daran gearbeitet, die vor allem emotional vermittelte Wut, für die sie vor zwanzig Jahren gefeiert und gefürchtet wurde (»Rid of me«, »To bring you my love«, »Is this Desire?« heißt ihre klassische Album-Trilogie aus jener Zeit) in vielschichtige, informationsgesättigte, aber auch profanisierte Bilder zu sublimieren. Bisweilen leidet die Musik darunter, denn im Kern schreibt sie immer noch straighten Indie-Rock, der unter der Komplexität ihrer Gesellschaftskritik zu ächzen beginnt. In ihren besten Momenten sind ihre Songs poetische Reportagen. Während »The Final Cut« das Ende von Pink Floyd markierte (weil damit alles gesagt war), bleibt zu wünschen, dass PJ Harvey immer noch unterwegs ist.