Fehler im System

Messerscharfe Gesellschaftsanalyse: »Ich, Daniel Blake« von Ken Loach

Mit 59 Jahren erleidet Tischler Daniel Blake einen Herzinfarkt und darf laut Ärztin nicht wieder arbeiten. Aber die »Gesundheitsdienstleisterin«, die telefonisch seinen Anspruch auf Sozialhilfe untersucht, kommt zu einem anderen Schluss. Schließlich hat der Mann auf die Fragen, ob er mehr als fünfzehn Schritte gehen und die Arme heben kann, als würde er einen Hut aufsetzen, mit »Ja« geantwortet. Aufgrund des Ablehnungsbescheids fällt Daniel durch das grobe Raster des britischen Sozialsystems. Weil er als arbeitsfähig eingestuft wurde, bekommt er keine Sozialhilfe und wird vom Jobcenter verpflichtet, dreißig Stunden pro Woche mit der Suche nach einer Arbeit zu verbringen, die er wegen seines Gesundheitszustandes ohnehin nicht annehmen kann.

 

Fast schon kafkaesk wirken die Gespräche mit den Behördenvertretern, die Sanktionen androhen, wenn Vorgaben nicht erfüllt werden, oder immer wieder auf Online-Formulare verweisen, die Daniel nicht ausfüllen kann, weil er keinen Computer hat. Es ist ein System sukzessiver Erniedrigung, das da­rauf ausgerichtet ist, die Fassade des Sozialstaates aufrechtzuerhalten, dessen Nicht-Funktionieren nicht nur in Kauf genommen, sondern aktiv vorangetrieben wird. Aber »Ich, Daniel Blake« zeigt mit kompromissloser Sensibilität die Menschen hinter den Sozialversicherungsnummern. Auf dem Amt lernt Daniel die junge alleinerziehende Mutter Katie kennen, die aus London nach Newcastle gezogen ist, nachdem sie dort zwei Jahre mit beiden Kindern in einem Obdachlosenheim gelebt hat. Daniel kümmert sich um die drei, so gut er kann. Aus Teelichtern und Blumentöpfen baut er in der unbeheizten Wohnung einen kleinen Tischheizer für die Kinder. Es sind Details wie diese, mit denen Ken Loach Liebenswürdigkeit und Realismus eng miteinander verknüpft.

 

Unsentimental, aber mit viel Empathie blickt er auf das Leben des sogenannten Prekariats und zeigt, wie schwer es ist, in Armut seine Würde zu bewahren. Herzzerreißend ist die Szene, in der sich Katie bei der Lebensmittelausgabe einer »Tafel« in eine Ecke zurückzieht und heimlich eine Dose Bohnen in sich hineinkippt, weil sie es vor Hunger nicht mehr aushält. In »Ich, Daniel Blake« offenbart sich ein tiefer, un­ideologischer Humanismus, aber auch eine messerscharfe, hochaktuelle Gesellschaftsanalyse. Ken Loach ist in diesem Jahr achtzig geworden. Viele Filme wird er nicht mehr machen, und solch engagierte Regisseure wachsen nicht nach. Wir werden Männer wie ihn und Daniel noch vermissen.

 

Ich, Daniel Blake (I, Daniel Blake) GB / F / B 2016, R: Ken Loach, D: Dave Johns, Hayley Squires, Dylan McKiernan, Briana Shann, 100 Min. Start: 24.11.