»Der beste Humor entsteht durch Widerstand«

Ken Loach über seinen neuen Film Ich, Daniel Blake, Wutbürger und

seinen nach hinten ­verschobenen Ruhestand

Mr. Loach, um ehrlich zu sein: Wir waren ein bisschen verwirrt. Sie hatten 2013 angekündigt, keine Filme mehr zu drehen. Und dann machen Sie doch noch einen, Ihren fünfzigsten, und gewinnen damit auch noch die Goldene Palme in Cannes.

 

Ja, es war ein bisschen albern, das damals so heraus zu posaunen. Das würde ich heute nicht mehr sagen. Aber lassen Sie es mich erklären. Wir drehten da­mals »Jimmy’s Hall« und ich war 18 Monate lang weg von zuhause. In meinem Alter ist das eine sehr lange Zeit. Ich war müde, meine Augen wurden schlechter. Aber nach dem Dreh war ich gerade mal eine Woche wieder in meinen eigenen vier Wänden, da rief Paul Laverty an, mein langjähriger Drehbuch­autor, und fragte mich, was ich so vorhabe. Wir plauderten ein bisschen, eins führte zum andern und schließlich drehten wir wieder einen Film.

 

 

»Ich, Daniel Blake« ist ein kämpferischer, anklagender Film über das britische Sozialsystem geworden. War Wut auch eine Motivation?

 

Man kann sich die Situation nicht an­schauen, ohne wütend zu werden. Ohne sich darüber aufzuregen, wie mit Menschen umgegangen wird. Als ich und Paul anfingen, uns gegenseitig Zeitungsartikel und Nachrichten zu schicken, wurde schnell klar, dass es hier ein Problem gibt. Wir begannen, in Städte und kleinere Ortschaften zu fahren und trafen Menschen in ärmsten Verhältnissen, die für ihr Essen bei karitativen Tafeln anstehen. Und gleichzeitig wurden in den letzten Jahren zwei bis drei Millionen So­zialhilfeempfänger in Großbritannien dafür bestraft, dass sie irgendwelche absurden Auflagen nicht erfüllt haben. Diese Zahl müssen Sie sich mal vorstellen! Ihnen wurde die Unterstützung entzogen, die sie für Nahrung, Unterkunft und Heizung brauchen. Und niemand redet darüber, es wird unter den Teppich gekehrt.

 

 

Ihr Film hat einen sehr authentischen Blick auf soziale Ungerechtigkeit, und er rührt zu Tränen. Wie schaffen Sie die Balance zwischen Aufklärung und Emotionalität?

 

Paul und ich haben zusammen recherchiert, aber die Figuren und die Handlung hat er geschrieben. Wenn man sich die absurde Situation bewusst macht, hat es erst mal etwas Komisches. Die ganze Bürokratie ist eigentlich lächerlich. Aber natürlich ist es, wenn man es am eigenen Leib erlebt, wahnsinnig frustrierend.

 

 

Die Komik kommt auch durch die Besetzung Daniel Blakes mit dem britischen Comedian Dave Johns. Hatten Sie ihn von Anfang an im Hinterkopf?

 

Nein, gar nicht. Wir haben uns alle möglichen Dar­steller angeschaut. Aber ich mag Comedians, weil sie, zumindest in Großbritannien, oft stark in der Arbeiterklasse verwurzelt sind. Der beste Humor entsteht bei uns durch Widerstand, Armut und sich durchschlagen müssen. Dave ist nicht nur sehr witzig, sondern kommt auch genau aus der Stadt,
in der unser Film spielt. Er ist im passenden Alter, sein Vater war Handwerker, er ist in einer Sozialwohnung aufgewachsen. Er kennt also den Kontext sehr genau. Es war einfach eine glückliche Fügung.

 

 

Die Sozialsysteme sind europaweit auf dem Prüfstand. Für rechte Parteien scheint es ein gefundenes Fressen, diese Bürokratie als wertlos und überflüssig abschaffen zu wollen.

 

Ich halte das sogar für gewollt. Die Bürokratie ist ineffizient, nicht weil man es nicht besser kann, sondern um Menschen zu erniedrigen und ihnen zu zeigen, dass sie an ihrer Armut selbst schuld sind. Die Medien tragen zu diesem Bild bei. Schauen Sie sich all die Fernsehshows an, die sich über Menschen lustig machen, weil sie angeblich zu fett sind oder zu viele Kinder haben. Aus Armut wird Comedy. Und wenn alle glauben, dass die Unterschicht selbst schuld ist, werden diejenigen, die es wirklich zu verantworten haben, nicht mehr zur Rechenschaft ge­zogen: die globalen Konzerne, die billige Arbeitskräfte und niedrige Steuern brauchen.

 

 

Welche Wirkung erhoffen Sie sich von Ihrem Film?

 

Ich hoffe natürlich, dass er Leute zum Nachdenken bringt. Vielleicht macht er ein paar Menschen wütend, hoffentlich reden sie über das, was gerade passiert. Und vielleicht motiviert es ein paar zu kämpfen. Aber man muss vorsichtig sein. Sie haben gerade ein Problem in Deutschland mit Wutbürgern. Aber deren Wut richtet sich gegen die falschen. So kam Hitler damals auch an die Macht. Es sind nicht die Armen, die Flüchtlinge, bestimmte Ethnien oder Religionen, die schuld sind. Damals waren es die Juden, heute sind es die Muslime. Trump ist ein klassisches Beispiel dafür. Vom Brexit will ich gar nicht anfangen.

 

 

Sie sind diesen Sommer 80 Jahre alt geworden und strahlen einen Kampfgeist aus, der selbst vielen 40-Jährigen abgeht. Woher nehmen Sie das?

 

Und denken Sie, wie schon einmal angedroht, tatsächlich ans Aufhören? Ich kann wirklich nicht sagen, wie es weitergeht. Ich lasse es mal auf mich zukommen und entscheide dann. Aber ganz ehrlich: Alles ist einfach, außer dem Dreh. Wenn der nicht wäre ... Der einzige Moment, an dem ich mich ernsthaft frage, was ich hier gerade tue, ist bei Dreharbeiten, wenn um sechs Uhr morgens der Wecker klingelt.