Jenseits des Heimatfilms

Die Filmreihe Geliebt und verdrängt rückt das Klischeebild über

das frühe Kino der Bundesrepublik Deutschland zurecht

Das hat offensichtlich eingeschlagen: Die Retrospektive »Geliebt und verdrängt« zum bundesdeutschen Kino der Jahre 1949 bis 1963, die das Internationale Filmfestival von Locarno im August diesen ­Jahres präsentierte, tourt seither in mal größeren, mal kleineren Paketen durch zahlreiche Kinematheken und Programmkinos, sowohl in Deutschland als auch im europäischen Ausland. 2017 wird sie die USA erreichen, im Dezember wird sie im Filmmuseum Düsseldorf zu sehen sein.

 

Alle sieben Filme der Auswahl stammen aus einem Jahrgang, dem Jahr 1957. Alle sieben sind ambivalente Zeugnisse der Modernisierungsbemühungen einer Gesellschaft, deren Selbstverständnis auch zwölf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch gründlich erschüttert ist. Und deren Kino brachte eben nicht nur jene Me­lange aus Schlagernonsens und Heimatfilmsentimentalität hervor, auf die es nach wie vor oft reduziert wird.

 

Eines der großen Außenseiterwerke des Jahrzehnts, ein Film, der den radikalen Bruch mit dem Alten sucht, ist Ottomar Domniks »Jonas«: eine gleichzeitig abstrakt analytische und intime Charakterstudie von existenzialistischer Wucht, fotografiert in stilisiertem Schwarz-Weiß. Vordergründig passiert nicht viel mehr, als dass ein Mann seinen neuen Hut verliert, aber entlang dieser Erzählung entwirft Domnik das Psychogramm einer verstörten, verunsicherten Gesellschaft, in der selbst das Flanieren durch den öffentlichen Raum seine Selbstverständlichkeit verloren hat, weil »die Moderne in all ihren Ausformungen auf die Menschen [einstürmt], die noch in einer anderen Zeit gefangen [sind]« (Michael Althen).

 

Die Opposition zwischen einsamen Avantgardisten wie Domnick auf der einen und der Kommerzkinosoße drumrum auf der anderen Seite ist bei genauerem Hinsehen freilich nicht haltbar. Gerade weil alle Filme in einem Jahr produziert wurden, kann die Reihe faszinierende Schlüsselwerke von drei der ambitioniertesten Mainstreamregisseuren ihrer Zeit nebeneinander stellen: Helmut Käutners selbstreflexiv-verspielte Paris-Fantasie »Monpti« (mit Romy Schneider), Wolfgang Staudtes von politischem Furor unterfüttertes Bauern-Melodrama »Rose Bernd« (mit Maria Schell) und Harald Brauns mondän designtes, fast schon brechtianisch gebrochenes Beziehungsdrama »Der gläserne Turm« (mit Lili Palmer). Drei Auseinandersetzungen mit prekär werdenden Geschlechterrollen, gleichzeitig drei Versuche von Autorenfilmern, populäre ­Formate und auch das Starsystem nicht in die Tonne zu treten, sondern über sich selbst hinauszutreiben. Kurzum: drei Beispiele für die erstaunliche, immer auch ambi­valente Modernität des Kinos der frühen Bundesrepublik.

 

Noch ambivalenter, und nicht nur ein bisschen wahnwitzig: Veit Harlans »Anders als die Anderen«. So etwas gab es wahrscheinlich, und vielleicht auch zum Glück, wirklich nur einmal in der Filmgeschichte: ein Großregisseur des Dritten Reichs, der sich mit einem »toleranten« Film über das damalige Tabuthema Homosexualität selbst entnazifizieren möchte. Harlan gerät dabei einerseits mit der hoffnungslos homophoben bundesdeutschen Zensur in Konflikt, und kann sich andererseits nicht so recht zwischen einem ehrlichen Interesse an gesellschaftlichen Außenseitern und seinem aus der NS-Zeit geerbten Hang zum rühr­seligen Mütter-Melodram entscheiden. Ein wirklich guter Film ist das vermutlich nicht einmal für Hardcore-Camp-Afficionados — als Zeitdokument, und auch als Zeugnis einer filmischen wie ideologischen Frontalkarambolage ist »Anders als die Anderen« aber unbedingt sehenswert.

 

Leicht könnte man neben einem solch exaltierten Stück Skandalkino einen vermeintlich bescheideneren Film wie »Bank­tresor 713« übersehen. Werner Klinglers nüchterner, proletarischer Gangsterfilm um zwei vom Wirtschaftswunder abgehängte Brüder, die einen Bankraub planen, ist Teil einer vergessenen bundesdeutschen B-Filmproduktion, die in den späten 1950ern auf Augenhöhe mit  amerikanischem Pulp operierte. »Banktresor 713« besticht außerdem durch großartige Westberliner Straßenimpressionen und ein denkwürdiges Schlussbild: einem Schrei ins Nichts, der vom geschäftigen Alltag einer erfolgreich durchfunktionalisierten Metropole verschluckt wird.