Unter Kontrolle

Mit das Das unbekannte Mädchen wagen sich die Gebrüder Dardenne nur auf den ersten Blick auf Genreterritorium

Das Festival von Cannes wird gern dafür kritisiert, dass einige ältere Regiestars ein Abo auf einen Platz im Wettbewerb zu haben scheinen. In diesem Jahr war für viele der neue Film der Gebrüder Dardenne, zweimalige Gewinner der Goldenen Palme,  ein Paradebeispiel für diese These. Und tatsächlich fühlt sich »Das unbekannte Mädchen« zunächst nicht gerade nach einem neuen Impuls für die Filmkunst an, eher nach einer Fingerübung zweier routinierter Altmeister.

 

Im Zentrum steht die junge Ärztin Jenny, die ihre letzten Tage in ihrer Praxis verbringt, bevor sie eine neue Stelle in einer größeren Klinik antreten wird. Diese Jenny, der die berüchtigte Handkamera vom Stamm-Kameramann der Dardennes Alain Marcoen nicht von der Seite weicht, ist ein guter Geist: Mit Engelsgeduld kümmert sie sich um ihre Patienten, muntert Kinder bei Hausbesuchen auf. Für ihre Umgebung ist sie weit mehr als nur eine Hausärztin. Umso fataler, wenn ein solcher Fels in der Brandung ins Wanken gerät. Eines Abends ignoriert sie bewusst das penetrante Klingeln an ihrer Praxistür, die Sprechzeiten sind vorbei. Am nächsten Tag wird die Leiche einer jungen Frau gefunden — auf einem Überwachungsvideo ist zu sehen, wie diese kurz vor ihrem Tod verzweifelt an Jennys Tür klingelt.

 

Auch wenn sich »Das unbekannte Mädchen« stärker als andere Dardenne-Filme an Genrestrukturen orientiert, geht es nicht um ein »Whodunit«, sondern um Jennys Schuldgefühle. Weniger aus Wissbegier denn aus Gewissensgründen versucht die Ärztin fortan, alles über die Tote herauszufinden und stößt dabei auf unschöne Dinge. Diese grundlegende Bewegung des Films ist in dem Maße spannend, wie hier eine souveräne junge Frau mit ungeahnten Abgründen konfrontiert wird, wie eine heile Welt aufgesprengt wird.

 

Adèle Haenel verkörpert Jenny mit angemessenem Understatement — keine konzentrierte Schauspieler-Performance, wie es manchmal heißt, sondern die überzeugende Darstellung einer Frau, die sich emotionale Ausbrüche nicht leisten kann, für die Kontrolle zum zentralen Selbstbild geworden ist. Ähnliches könnte man auch über das belgische Regie-Duo sagen, das die Zügel in der Hand behalten will. Diese Souveränität kann durchaus frustrieren, aber sie ist konsistent in einem Werk, für das auch die wackelige Handkamera nicht filmischen Kontrollverlust beschwört, sondern die notwendige Mitarbeit an der Stabilisierung einer immer schon labilen Welt.