Die Provinz holt einen immer wieder ein: Joachim Geil | Foto: Steidl

Der Kleinstadtkalligraph

Joachim Geil macht die Provinz in seinem neuen Roman »Ruhe auf der Flucht« zur Kleinstadthölle

Hubert ist ein typischer Provinzteenager.  Seine Umgebung unterfordert ihn, also geht er gemeinsam mit seinem Freund Schorsch in den Wald, um dort Vögel und Pflanzen zu katalogisieren. Er vergisst niemals die Lebensspanne eines Promis. Und er hat sich mit Jan und Daniel ein wunderschön unwahrscheinliches Liebespaar in der Provinz ausgedacht. Seine andere große Leidenschaft (neben Schorsch) ist die Kalligraphie. Hubert studiert längst nicht mehr gebräuchliche Schriften, bis er sie perfekt imitieren kann und beschriftet damit die Sortierfächer im lokalen Musikgeschäft, wo er als Dank seine Sammlung an Klassik-Tonträgern vervollständigen kann.

 

Aber Hubert hat noch eine andere Geschichte und die sorgt dafür, dass er eines Tages nackt einer Kunsthistorikerin gegenüber steht, die ihren ebenso nackten Hintern auf eine Waschmaschine drückt, während sie ihn mustert. Hubert ist Vollwaise, lebt bei seinem Onkel und dieser mißbraucht ihn — nicht nur privat, sondern auch indem er ihn im kleinen Kreis des gehobenen Bürgertums der pfälzischen Kleinstadt herumreicht, in der die beiden wohnen. Huberts kompensiert dies mit immer genaueren Beobachtungen, bis er eines Tages einen raffinierten Racheplan schmiedet.

 

Joachim Geils dritter Roman »Ruhe auf der Flucht« ist das Por­trät eines außergewöhnlichen Teenagers inmitten der ganz normalen Abgründe einer Kleinstadt, die auch aus einem David-Lynch-Film stammen könnte, aber immer die Spuren von Geils Heimat, der Pfalz trägt. Geil, der seit seiner Studienzeit in Köln lebt und arbeitet, hat Huberts Leben in eine Form gebracht, die ebenso überbordend und geordnet ist wie die Vorstellungswelt seines Protagonisten. Sein Mittel dafür ist die Typo­graphie. Huberts Alltag ist in schmucklosem Helvetica gesetzt, die Liebesgeschichte von Jan und Daniel in zeitloser Serifenschrift und auf das »Verwahrstückverzeichnis«, Huberts privaten Zettelkasten, wird mit Fraktur verwiesen. »Ruhe auf der Flucht« verschränkt diese Erzählebenen mühelos und so gelingt Joachim Geil das Porträt eines außergewöhnlichen Jungen, das seinem Leser zugleich die Freiheit lässt, Huberts Perönlichkeit selbst zu erkunden.


Joachim Geil: »Ruhe auf der Flucht«, Steidl, 376 S. 24,99 Euro