Illustration: Kirstine Toft

Die Denun­ziation geht weiter

Am 9. Dezember widmet sich Amnesty Inter­national mit der Veranstaltung »Einmischung unerwünscht: Zivilgesellschaft unter Druck« den autoritären Regimes von Russland bis zur Türkei. Auf dem Podium dabei ist Osman Okkan. Der Kölner Journalist beobachtet die Situation in der Türkei ganz genau

Herr Okkan, Sie haben zahlreiche Filme über Schriftsteller und Journalisten aus der Türkei gedreht, sind mit den Kollegen dort gut vernetzt. Erwägen viele von ihnen den Gang ins Exil?

 

Nach Möglichkeit. Sie suchen vor allem nach einem Ort, an dem sie sich selbst und ihren Prinzipien treu bleiben können. In der Türkei ist es derzeit immer weniger möglich, eine abweichende Meinung zu äußern, das gilt zunächst für Journalisten, Künstler und Wissenschaftler, aber selbst für kritische Normalbürger. Sie sind ständig der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt, zumindest der Denunziation.

 

 

Setzen sich Denunziation und Drangsalierung kritischer Stimmen auch im Exil fort?

 

Ja, Deutschland ist davon betroffen. Man kann in den sozialen Netzwerken und der AKP-hörigen Presse eigentlich täglich Denunziationsberichte nachlesen. Die Erdoğan-Anhänger können hier in Deutschland Hotlines anrufen und ihre Nachbarn denunzieren. Die Namen werden abgekürzt veröffentlicht, aber man sie genau lokalisieren: Der und der Obsthändler ist womöglich auch noch Kurde oder Alewit und vertritt nicht der Meinung der AKP-Regierung. Das muss ein Gülen-Anhänger sein! Die Stimmung, auch hier in Deutschland, ist derzeit sehr denunziatorisch. Es müsste geprüft werden, ob das nicht an Volksverhetzung grenzt und ob nicht der Moment gekommen wäre, wo die Staatsanwaltschaft einschreiten müsste. Aufforderungen zur Denunziation bleiben nicht folgenlos, die Eskalation liegt in ihrer Logik. Der nächste Schritt könnten physische Angriffe sein. Die aggressive Stimmung gegenüber Andersdenkenden wird eins-zu-eins in die Bundesrepublik übertragen. Deshalb sind die Folgen des Putschversuchs auch eine Angelegenheit der Bundesrepublik, weil hier drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben. Man kann nicht so tun, als wäre die Türkei ein Land wie jedes andere, mit dem man diplomatische Beziehungen unterhält.

 

 

Die Deutschtürken haben doch mehr mit Deutschland als mit der Türkei zu tun. Die meisten sind hier geboren, viele haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Warum also die Rede vom »langen Arm« Erdoğans?

 

Das ist eine zu verkürzte Sichtweise. Die Türken, die in Deutschland leben und von denen viele auch den deutschen Pass haben, haben sehr häufig noch Verbindungen in ihre alte Heimat — persönliche, familiäre und natürlich auch politische. Und die sind durch die Revolution der Kommunikationsmedien in den letzten zwanzig Jahren eher stärker geworden. Was gab es vor vierzig Jahren? Türkischsprachige Sendungen des Westdeutschen Rundfunks, und einige türkische Zeitungen, die mit Verspätung hier nachgedruckt wurden. Mehr nicht. WDR-»Köln Radyosu« war das einzig aktuelle Medium, durch das man objektive Informationen aus der Türkei erfahren hat, auch in Zeiten der Militärdiktaturen. Diese Monopolstellung hat natürlich viele Nachteile mit sich gebracht, aber ihr Vorteil war, dass es sich um Nachrichten eines öffentlich-rechtlichen Senders handelte. Und der war universellen journalistischen Kriterien verpflichtet. Heute ist es den Leuten möglich, Heimatsender zu hören, die mehrheitlich Erdoğans Sprachrohre geworden sind, und die Medienberichte dank des Internets in Echtzeit zu verfolgen. Umgekehrt haben die Erdoğan-Medien die türkische Community hierzulande als Zielgruppe entdeckt und bedienen sie intensiv.

 

 

Sehen Sie einen Zusammenhang zur hiesigen Integrationspolitik?

 

Man muss festhalten, dass über Jahrzehnte die Migranten, also auch die türkeistämmigen Menschen hier keine echte Chance angeboten bekamen, Deutsch zu lernen. Man hat es nicht von ihnen eingefordert, man hat sie dabei nicht unterstützt, wie man das in einem Einwanderungsland tun sollte, zu dem Deutschland eigentlich seit den 60er Jahren zählt. Sie blieben darauf angewiesen, die Medien aus der Türkei zu rezipieren. Das haben die Medien in der Türkei auch begriffen: Die zweite, dritte, jetzt auch schon vierte Generation von Türken in Deutschland hat zwar diese Sprachbarriere im Alltag nicht mehr, aber sie fahren immer noch auf die Medien aus der Heimat ihrer Eltern und Großeltern ab, weil die sie ansprechen, auf ihre Bedürfnisse, ihre soziale Lage, ihre Interessen eingehen. Oder ihnen das zumindest vorspiegeln. Diese Menschen sind sehr wohl hier zu Hause, viele von ihnen sind auch schon deutsche Staatsangehörige. Sie sind aber auch in der Türkei, und subjektiv empfunden, in der türkischen Sprache zu Hause. Vor allem was die Informationslage angeht. Wir können diese komplexen Beziehungen nicht mehr in starren nationalstaatlichen Kategorien fassen. In dem Moment, wo Erdoğan die Medien gleichschaltet, ist diese Gleichschaltung, diese Zunahme an Aggressivität, an Nationalismus und Islamismus auch hier zu spüren. Die »aspekte«-Sendung mit dem verfolgten Journalisten Can Dündar darf nicht die einzige Geste bleiben, angesichts der Tatsache, dass Türkisch schon seit Jahrzehnten die zweitwichtigste Verkehrssprache in Deutschland ist.

 

 

Dennoch bleibt die Frage, warum Erdoğans Raserei so dermaßen expansiv ist. Er scheint keine Grenzen zu akzeptieren. Wie beurteilen Sie sein Auftreten?

 

Als das jahrzehntelange Bündnis zwischen Erdoğan und der Gülen-Bewegung vor drei Jahren endgültig zerbrach, wurde ihm klar, wie wenige der Eliten, die im Staatsapparat sitzen, im Militär, in der Justiz, in der Wissenschaft, ihm zu folgen bereit sind. Die bis dahin von Erdoğan massiv geförderte Gülen-Bewegung entpuppte sich über Nacht als mächtiger Gegner. Hinzukommt die Korruptionsaffäre, in die Erdoğan und seine Familie offenbar verstrickt sind, und die noch nicht ausgestanden ist. Er weiß, wenn er stolpert, ist er weg. Erdoğan ist ein Getriebener. Das weiß er, das wissen auch seine Parteigenossen. Die haben nur ihn als charismatischen Führer. Also wählen sie mit Erdoğan die Strategie der Vorwärtsverteidigung. Das ist Erdoğans einzige Überlebenschance. Die Errichtung einer Präsidialdiktatur ist auch eine Angstmaßnahme, um all die Kräfte abzuwehren, die ihn zu gefährden drohen. Deshalb geht er jetzt so drastisch gegen jede Öffnung, jede Kritik vor. Die Einführung der Todesstrafe wäre für ihn ein entscheidender Schritt, um sich der für ihn schon seit langem sehr lästigen europäischen Kontrollinstanzen zu entziehen.

 

 

Auf der Veranstaltung von Amnesty International wird es nicht nur um Repression gehen, sondern auch um Gegendruck. Woran arbeiten Sie gerade mit?

 

Auf dem Portal correctiv.org entsteht eine deutsch-türkische Seite, dessen Chef­redakteur Can Dündar sein wird. Diese Plattform, hoffentlich bald auch auf englisch, richtet sich an alle türkischen und türkischstämmigen Journalisten, deren Arbeit in der Türkei oder über die Türkei behindert oder unmöglich gemacht wird. Damit hätten wir zumindest ein Medium, das gebündelt Informationen und Kommentare bereitstellt, die in der Türkei nicht mehr zu lesen sind. Das hat natürlich nur eine begrenzte Wirkung — es ist erst mal nur eine Netzpublikation. Aber für Türken, die im demokratischen Widerstand sind, hat das Internet eine überlebensnotwendige Bedeutung für ihre Arbeit. Das gilt auch für diejenigen, die hier leben. Man kann das nicht trennen. Das erklärt aber auch den Zorn der AKP-Regierung in der Türkei, die immer öfter in soziale Netze eingreift.