Achtung, Gegengefälle!

Es nennt sich »Bonn Chance!« und ist ein wichtiges Forum für Zeitgenössisches Musiktheater in Deutschland. Die Einrichtung der Oper Bonn betreibt die Öffnung des Genres bis hin zum Pop. Doch auf Grund von Sparzwängen ist Gefahr im Verzug. Zu Unrecht, meint Eckhard Weber, der die neueste Uraufführung vorstellt: »Bing« eine Komposition von Detlef Müller-Siemens nach dem gleichnamigen Text von Samuel Beckett.

 

»Über das Thema Zeit kann man anders fantasieren als über die vorgegebene Frage, ob Tosca von der Burg springt oder nicht.« Das Abstrakte als Herausforderung: Michael Simon inszenierte im Frühsommer dieses Jahres »Besuchszeit« von Reinhard Febel im Forum der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle, einem bevorzugten Spielort von Bonn Chance!. Das Stück nach dem Science-Fiction-Roman »Picknick am Wegesrand« der russischen Autoren-brüder Strugatzki aus den 70er Jahren kam dem Geschmack des Regisseurs und Bühnenbildners entgegen. Simon interessierte sich vor allem für den Aspekt einer relativierten Wahrnehmung.
Nach der Landung Außerirdischer auf der Erde forschen drei Männer an dem Ort, wo die Besucher aus dem All rätselhafte Objekte hinterlassen haben. Dies hat Auswirkungen auf die drei Menschen. Ihre individuellen Zeiten laufen auseinander. Sie verlieren sich darin. Einer verschwindet in seiner Kindheit, weil die Zeit zurück läuft, ein anderer kommt abhanden, weil seine Zeit schneller wird. Michael Simon gestaltete für die Bonner Produktion einen komplexen »wahrnehmungsphilosophischen Raum« mit verschiedenen Textschichtungen auf Stoffbahnen und Lichtschneisen. Gleichzeitig diente der Raum als Installation, die tagsüber von Museumsbesuchern begangen werden konnte. Und bei der Aufführung war die traditionelle Aufteilung in Bühne und Zuschauerraum aufgehoben.
Vor »Besuchszeit« gestaltete Simon bereits drei Uraufführungen für Bonne Chance!: In Beat Furrers »Narcissus« deklinierte er eine vergebliche Identitätssuche in konzentrierten und suggestiven Bildern durch. In »Stimme allein« von Beat Furrer und Klaus Lang lotete er die Grenzen der Wahrnehmung aus. Für »Königin Ök« von Klaus Lang brachte er eine szenische Paraphrase über Diego Velásquez’ berühmtes Gemälde »Las Meniñas« in einen Zusammenhang mit der Frage nach dem Wechsel der Perspektive. Simon schätzt die besondere Situation im Forum der Bonner Bundeskunsthalle, einem Saal, der ohne Guckkastenbühne konzipiert ist. Dies ermögliche ihm neue Ansätze, sagt er. Es sei viel besser, mehr solcher Konzepte zu entwickeln, statt »neue Opern auf die alte Opernbühne
zu quetschen«.
Neben der Münchener Biennale hat sich Bonn Chance! zum maßgeblichen Forum für neue Wege des Musiktheaters in Deutschland entwickelt. Seit zehn Jahren wird hier der Begriff Avantgarde jenseits elitären Elfenbeinturmdenkens neu definiert. Stücke von Adriana Hölsky, Steve Reich und John Cage wurden aufgeführt, neuartige Lösungen des Dialogs von Szene und Musik ausprobiert. Performance, Installation und Interaktion fanden Einlass in die Opernszene. Nach der Uraufführung von Paolo Chagas’ Technooper »Raw« (1999) wurden die Besucher zum Rave eingeladen. Und gerade erst konnte man trotz knapper Mittel für nächstes Jahr ein Projekt mit dem Musiker F.M. Einheit unter Dach und Fach bringen.
Für die nächste Uraufführung, einer Auftragsarbeit für Bonn Chance!, arbeitet Michael Simon mit der Regisseurin Bettina Erasmy zusammen. Das neue Werk des Komponisten Detlev Müller-Siemens »Bing« definiert sich im Untertitel als »erstarrtes Musiktheater im Nullzustand«. Es basiert auf der gleichnamigen Vorlage von Samuel Beckett. Die Szene von »Bing« ist grob bereits vom Komponisten in Anlehnung an Beckett vorgegeben: Ein nackter Mensch befindet sich in einem weißen Kubus. Der Würfel soll gerade so groß sein, dass ein Körper hineinpasst. Diese Vorgaben wurden für die Inszenierung weiterentwickelt, wie Simon erläutert: »Wir haben eine eigene Form gefunden, die sich vor allem damit beschäftigt, wie man eine Gleichwertigkeit von Musik, also dem Klangraum, und dem Spielraum erzeugen kann. Es wird zwei Parallelräume geben, einer davon wird mit dem Orchester besetzt, das damit einen mit der Szene gleichwertigen Raum bekommt.« Dieses angedeutete »duale Prinzip« entspricht der Konzeption von Müller-Siemens, der zwei Sprecher und zwei Sänger vorgesehen hat.
Bettina Erasmys Regieüberlegungen gehen von der zentralen Figur des Stückes aus: »Ein Mensch steht dort, einsam, nackt, in einem quadratischen Raum. Mich interessieren daran vor allem die Themen Einsamkeit und Auseinandersetzung mit dem Tod. Das Stück ›Bing‹ ist ja im Grunde genommen nur ein Extrakt eines anderen Beckett-Werks’ ›Der Verwaiser‹. Dort werden die zentralen Motive von Einsamkeit und Tod noch viel deutlicher angesprochen.« Der Titel »Bing« spielt bewusst mit der lautmalerischen Konnotation, die sich vordergründig einstellt, doch für Erasmy impliziert der Titel mehr: »›Bing‹ und ›Hop‹ sind zentrale Begriffe in Becketts Stück. ›Bing‹ ist für Beckett eine Frage, die gestellt wird. Ein Gedankenfunke, ein Gedankenblitz, ein Licht, das den Kopf erhellt. ›Bing‹ steht für einen Menschen, konkret für den Blick eines flehenden Auges. ›Hop‹ ist etwas, was den Wechsel des Blickwinkels thematisiert. Ein wichtiges Thema stellt dabei für mich die Frage nach der Wahrnehmung dar: Wie kann ein Dialog stattfinden, wenn noch nicht oder nicht mehr gesprochen wird, was gibt es darüber hinaus? Gesten? Blicke?«
Dazu gestaltet Bettina Erasmy einen komplex verlaufenden Dialog. Den beiden Sängerinnen und Sprechern bei Müller-Siemens werden zehn weitere Personen beigestellt. Und nicht nur damit wagt die Beckett-Kennerin eine eigene Deutung: »Beckett beschwört gerne Endzeit-Szenarien, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Ich sehe das anders, ich möchte die Möglichkeit des Aufbegehrens deutlich machen. Becketts Leben ist auch davon geprägt gewesen. Er war ein Mensch, der immer wieder gekämpft hat, gegen seine Depressionen und Krankheiten.« Ein Aufbegehren, das sich im Versuch zeigt, das Miteinander, die Auseinandersetzung mit einem Gegenüber nicht verstummen zu lassen: »Innerhalb des Pessimismus gibt es auf jeden Fall eine optimistische Spur, den Willen, dem Düsteren und Schweigsamen etwas entgegen zu setzen«, deutet Bettina Erasmy ihre Sichtweise an. Wobei die fertige Produktion zeigen muss, ob damit ein neuartiger Zugriff auf Beckett gelingen kann. »Der Mensch, der sich in diesem Kubus befindet«, sagt die Regisseurin, »ist durchaus noch lebendig. Ein Mensch, der so wach ist, der durch seine Sinneseindrücke Farbe, Körper und Raum wahrnimmt, ist für mich ein sehr optimistisch gestimmter Mensch. Da ist noch nicht alles verloren.«
Das bleibt auch für die Zukunft von Bonn Chance! zu hoffen. In Zeiten knapper Kassen wird bekanntlich oft zunächst am weniger Gefälligen gespart. In Bonn macht sich der Sparzwang besonders empfindlich bemerkbar, weil die Bundeszuwendungen wegfallen. Das Theater muss diese Spielzeit mit drei, in der kommenden mit fünf Millionen Mark weniger auskommen. Wenn 2003 Klaus Weise von seinem Aufsteiger-Haus in Oberhausen als Intendant nach Bonn kommt, wird der Theateretat insgesamt um etwa 22 Millionen Mark geschrumpft sein. Arnold Petersen, der nach dem scheidenden Manfred Beilharz die Interimsspielzeit 2002/03 leitet, und Klaus Weise wären klug beraten, den Trumpf Bonn Chance! nicht zu verspielen. Weise hat jüngst in einem Interview immerhin ein interdisziplinär gefärbtes Interesse für die Musik bekundet. Bonn Chance!-Dramaturg Jens Neuendorf räumt jedoch ein, dass »wir in Zukunft kleinere Brötchen backen müssen. Das birgt aber auch die Chance, neue Strukturen und Modelle zu finden«. Ein gangbarer Weg wären Koproduktionen und Kooperationen – ein anderer in puncto Gage wäre mehr Idealismus: »Man muss an die Solidarität der Leute appellieren. Sie sollten es als Ehre betrachten, bei Bonn Chance! mitzuarbeiten.«
»Bing«, Szene für 2 Soprane, 2 Sprecher und Kammerorchester. Musik von Detlef Müller-Siemens, nach einem Text von Samuel Beckett. Uraufführung. 13.-16., 18.12., 20 Uhr, Forum der Kunst- und Ausstellungshalle, Bonn. Am 9.12. um 11 Uhr findet am selben Ort ein Werkstattgespräch zu »Bing« statt.