Freud und die neue Biologie des Geistes

»Die Stimme der Vernunft ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat«, wusste Sigmund Freud. Dass sie sich gerne auf Umwegen über das Unbewusste zu Wort meldet, gehörte zu seinen wichtigsten Entdeckungen. Dass mancher Vernunft nicht sieht, wo wissenschaftliche Beweise fehlen, gilt damals wie heute. Die Psychoanalyse ist eines der drei derzeit von den Krankenkassen anerkannten Therapieverfahren, aber weiterhin umstritten – nicht zuletzt, weil auch nach 300 Stunden auf der Couch ein »Erfolg« (was immer der bedeutet) bisher nur subjektiv behauptet werden kann. In Zeiten von Neurobiologie, modernen bildgebenden Verfahren und nachweislich höchst effektiven Psychopharmaka kreist die Diskussion heute um eine »neue Biologie des Geistes«.

Freud und die moderne Hirnforschung, das war ein zentrales Thema in der Publikationsflut, die uns zum 150. Geburtstag des Übervaters überrollte. Die vielleicht wichtigste Stimme aus der Neurobiologie ist die des Gedächtnisforschers und Medizin-Nobelpreisträgers Eric Kandel – der zur Diskussion zwei Bücher beisteuert und im Juni in Köln zu Gast ist.

Der in Wien geborene, heute 76-Jährige Professor an der Columbia University floh 1939 vor den Nazis in die USA. Mit der Motivation, die Greuel des Holocaust und die komplizierte Mechanik der Erinnerung zu begreifen, begann er seine Karriere mit einer Ausbildung zum Psychoanalytiker, um bald in die biologische Forschung zu wechseln. Seitdem arbeitet er daran, Psychiatrie und Psychoanalyse neurobiologisch zu fundieren und die lange verfeindeten Lager zu versöhnen.

»Erfolgreiche Psychotherapien verändern das Gehirn«, beweist Kandel, und glaubt daran, dass das Wissen über Struktur und Funktionen von Neuronen und Synapsen Psychotherapien künftig überprüfbar und effektiver machen wird. Hätte Freud, selber Arzt und Physiologe, diese Stimme der Vernunft begrüßt? Die Psychoanalyse tendiert, je nach Sichtweise, ebenso zur Kunst wie zur Wissenschaft.