»Psychologie intere­ssiert mich nicht«

Der französische Regisseur Bruno Dumont über seinen neuen Film Die feine Gesellschaft, seinen Hang zu Extremen und warum es gut ist, wenn Schauspieler das Drehbuch nicht lesen

Herr Dumont, Ihr neuer Film ist voller grotesker Figuren und Situationen. Was reizt Sie daran?

 

Das Groteske ist wie eine Linse, die hilft, die Dinge scharfzustellen, klarer hervortreten zu lassen. Es erlaubt mir, ein genaueres Bild der menschlichen Natur zu bekommen.

 

 

»Die feine Gesellschaft« spielt im frühen 20. Jahrhundert an der französischen Atlantikküste. Der Film erzählt die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau, die vielleicht ein Mann ist und aus einer ebenso reichen wie exzentrischen Familie stammt, und einem armen Fischer. Könnte man »Die feine Gesellschaft« als eine extreme Form der comedy of manners, des Gesellschaftsstücks bezeichnen?

  

Meine Tragödien wie »Das Leben Jesu« oder »L‘humanité« waren radikale Tragödien. Jetzt mache ich Komödien, aber auf eine radikale Art. Ich vermute, das hat mit meiner Herkunft zu tun. Ich komme aus Flandern. Wenn man sich die Malerei aus dieser Gegend ansieht, dann fällt auf, dass sie schon immer an Kontrasten und Übertreibungen interessiert war. Wenn man die flämische Malerei etwa mit der italienischen vergleicht, dann fällt einem auf, dass wir ein nicht sonderlich subtiler Menschenschlag sind — wir haben nicht die Perspektive erfunden, wir sind auch nicht an feinen Gesichtszügen interessiert. Schauen Sie sich nur die Bilder von Breughel an! Ich bin ein Kind dieser Tradition. Als Kind schon habe ich mich gern zu Karneval verkleidet. So mache ich auch Filme.

 

 

Was hat Sie an der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts interessiert?

 

Damals gab es mehr Kontraste. Heute versuchen sich die Reichen wie die Armen zu kleiden und umgekehrt. Es ist heute viel schwieriger von außen zu beurteilen, was im Innern der Leute vorgeht. Während damals alles, was ich für meinen Film brauche, direkt sichtbar war. Wenn man in das Viertel der Fischer geht, sieht das wirklich arm aus. Wenn man in die Villa der Familie van Peteghem geht, sieht man, wie reich und verrückt sie sind. Die Skurrilität der Figuren musste sofort sichtbar sein.

 

 

Die Bilder ihres Kameramanns Guillaume Deffontaines erinnern an die französische Malerei des späten 19. Jahrhunderts. Ist Ihnen die Spannung wichtig zwischen den wunderschönen Bildern und dem groben Humor, der Groteske?


Absolut! Mein Blick auf das Lächerliche soll Schönheit und Größe vermitteln. Ich will keinen Blick auf die Figuren, der sie klein macht, sie verachtet. Ich behandele sie schlecht, ich mache mich über sie lustig, aber gleichzeitig liebe ich sie. Mir war schon immer am wichtigsten, dass sie eine Art Erlösung finden. Ich will sie nicht allein lassen mit ihren winzigen Leben und Schicksalen. Ich will sie erheben, sie auf eine grandiose Bühne stellen.

 

 

Der Slapstick ihres Films erinnert an die Stummfilmzeit und den frühen Tonfilm, zum Beispiel an »Laurel & Hardy«.

 

So bin ich zur Komödie gekommen. Ich wurde inspiriert durch das frühe Kino, etwa die Filme von Max Linder. Ich liebe Laurel & Hardy, aber die kamen später. Mein Humor wurde auch durch die französische Avantgarde beeinflusst, durch deren ätzende Kritik mit Hilfe von Komik, aber auch durch spätere Filmemacher wie Jerry Lewis, Blake Edwards und die Monty-Python-Truppe. Außerdem gab es einen französischen Regisseur aus der Gegend, aus der ich stamme, Alfred Machin. Er hat Filme über Tiere gedreht, und er war der erste, der aus einem Flugzeug filmte. Ich habe den Inspektor in »Die feine Gesellschaft« nach ihm benannt. Und vielleicht hat mich die Art, wie Machin Panther filmt, auch inspiriert, wie ich meine Figuren in Szene setze.

 

 

Welche Regieanweisungen haben Sie gegeben, damit die Schauspieler, so gnadenlos überzeichnen?

 

Vergessen Sie Regieanweisungen! Die Sache ist die: Wenn Fabrice Lucchini, der den Vater von Billie spielt, sagt, er habe das Drehbuch nicht gelesen, dann stimmt das wahrscheinlich. Weil er faul ist. Aber für mich ist das gut. Ich will gar nicht, dass Schauspieler ans Set kommen und genau wissen, was sie tun sollen. Mir ist es lieber, wenn jemand mit mir herumprobiert. Natürlich ist das ein Kampf. Man muss Widerstände überwinden. Schließlich schickt man die Schauspieler ins Weltall. Sie verlieren den Boden unter den Füßen, also wollen sie wissen, wohin es geht. Zugleich versucht man, sie weiter hinauszuziehen. Einen Film zu drehen, bedeutet auf Entdeckungsreise zu gehen und gemeinsam etwas zu finden. Ich habe viel mit Juliette Binoche gestritten, die die Mutter von Billie spielt. Ich erinnere mich, dass sie Hinweise auf die Psychologie ihrer Figur geben wollte. Und ich habe ihr gesagt: Das interessiert mich nicht! Wir müssen weitergehen, unkonventioneller sein, komplett verrückt. Das gab Widerstände. Nur durch diese Konfrontation passiert etwas Interessantes. Nur so kann man eine Art von Wahrhaftigkeit erreichen.

 

 

Bruno Dumont

 

Der aus dem flämischen Teil Nordfrankreichs stammende Dumont (geboren 1958) war Philosophielehrer, bevor er über die Regie von Werbefilmen zum Kino kam. Seine ersten Filme »Das Leben Jesu« (1997) und »L’humanité« (1999) wurden bei den Filmfestspielen von Cannes mehrfach ausgezeichnet. Seitdem gilt Dumont als einer der kompromisslosesten Filmemacher
Europas. Zuletzt überraschte er auf Arte mit der absurden Landkrimi-Serie »Kindkind« (2014).