Der autoerotische Handkuss überwindet das Waldsterben

Heim & Welt

 

 

Jetzt knabbern die Menschen an ihren Handys. Zunächst dachte ich, die »neue Generation smarter Endgerät« besitze eine Rasierapparat-Funktion. So sah das aus. Vielleicht aber, so mutmaßte weiter, gebe es einen Aufsatz mit konzentriert dosierten Nahrungsergänzungsmitteln, die der Handynutzer schlecken könne. Und weil so viele Menschen neuerdings ihr Handy waagerecht vor den Mund halten, als seien sie im Begriff eine glasierte Knäckebrotscheibe zu verspeisen, fühlte ich mich in meiner -Vermutung bestärkt. Dann aber musste ich erfahren, wie immer mehr Menschen in ein zärtliches Säuseln verfielen. Das sei Voice Messaging, erklärte mir Tobse Bongartz. Doch ganz gleich wie man diese Obsession klassifiziert — das Handy ist libidinös besetzt, das Knabbern und Flüstern am Gerät ist eine Liebkosung, die einem -autoerotischen Handkuss gleichkommt — das »Handy« ist ja längst zur »Hand« geworden.

 

Diese taktile Innigkeit mit dem Gerät löst womöglich eine andere Ersatzbefriedigung ab: das Nase-popeln. Es ist eine Frage des Geschmacks, welche dieser traurigen Leidenschaften man in der Öffentlichkeit für akzeptabler hält. 

 

Die Crux bleibt: Nie weiß der Mensch, wohin mit seinen Händen. Er kann damit den Faustkeil fertigen und Raketen für eine Reise zum Mond bauen — aber sonst sind die Hände lästig. Deswegen hängen sich selbst abgebrühte Sänger robust musizierender Rockbands eine Gitarre um, obwohl sie darauf nicht oder bloß unnötigerweise spielen. Ihre Hände müssen halt Halt haben. Die Ratlosigkeit gegenüber den Händen ist es auch, weshalb Zigaretten und Kaffeebecher so beliebt sind, sie weisen den Händen eine Funktion zu. Die daraus resultierende medizinisch keinesfalls gebotene Zufuhr von Nikotin und Koffein ist auch eine Folge autoritärer Erziehung: Wir wären gesünder und weniger nervös, wenn die Doktrin »Hände aus den Hosentaschen!« nie in den vulgär-pädagogischen Kanon aufgenommen worden wäre. Ich werde das Oma Porz bei ihrer nächsten Verwarnung dieser Art sagen müssen.

 

Aber es gibt auch eine kultivierte Form jenes Zwangs, die Hände im Gesicht zu haben. Noch in den 80er Jahre war sie unter Schriftstellern verbreitet, es ist es das Beste, was die 80er Jahre und ihre Schriftsteller hervorgebracht haben. Schriftsteller, jedenfalls solche von Rang, hießen damals noch Literaten. Zu dieser Zeit aber begab es sich, dass auf ihren Porträts immer seltener eine Zigarette oder Pfeife im Gesicht — meist im Mund — steckte. Eine Neuerung, denn bis dahin hieß Denken immer Rauchen. Mir raucht der Kopf, so sagt man ja. Und wem wollte der Kopf damals nicht rauchen vor Waldsterben, Walfang, Wettrüsten. Dass änderte sich als sich die Fotografen nicht mehr nur um die Welt-lage, sondern auch um ihre von Nikotinfilm bedrohten Objektive sorgten. Sie untersagten während Foto-Sessions das Rauchen. Was taten die Literaten? Sie streckten trotzig den Finger ohne Zigarette ins Gesicht — nicht in den Mund (das taten damals bloß leicht bekleidete »Ulknudeln«), und auch nicht in die Nase (jedenfalls wurden diese Fotos als für einen Suhrkamp-Einband ungeeignet eingestuft). Nein, die Literaten steckten ja nicht die Finger, sondern streckten die Finger — und das ans Kinn! Genauer: den Zeigefinger vor das Kinn, den Daumen dahinter. Dieser Klemm- und Stützgriff signalisierte, dass ihr Haupt, randvoll mit Gedankenschwere, sonst abzusacken drohe. Derart wies der Zeigefinger auf das Kinn (Symbol unbeugsamen Willens) und auf den Mund (Symbol nie versiegende Quelle klarer, doch zugleich  dunkler -Gedanken). Diese Geste ist verschwunden. Bald werden Intellektuelle mit Handys an Kinn, Lippen oder Nase posieren. Ihr Kopf be-nötigt keine Stütze mehr. Die Schwere weicht der Leichtigkeit einer bizarren Tändelei mit technischen Geräten.