Die Spur des Roten Mantels

Als sie verschwand, trug die kleine Lucia Treggia einen roten Mantel. Der Lehrer Nani erfährt davon aus dem Radio und es führt ihn zu seinem persönlichen Trauma zurück. Er hat seine Tochter durch eine Krankheit verloren und seine Ehe ist daran zerbrochen. Nani steigert sich in die Nachrichten hinein, wird immer kauziger und hat schließlich nur noch die Schüler seiner Klasse als treue Zuhörer. 

 

Nani ist die Hauptfigur von »Das Mädchen und der Träumer«, dem neuen Roman von Dacia Maraini, für viele die große Dame der italienischen Literatur. Und um diesen Ruf gerecht zu werden, hat neben Nanis Geschichte auch noch eine Kulturgeschichte des Kindesverlusts in ihren Roman gepackt. In den Monologen vor seiner Klasse wandert Nani von der vermissten Lucia bis zu Europa, die als Kind von Zeus entführt wird. Und das Mädchen im roten Mantel ist nicht nur eine Anspielung auf Rotkäppchen, sondern auch auf einen der tödlichsten Irrtümer der Filmgeschichte. In Nicholas Roegs »Wenn die Gondeln Trauer tragen« irrt Donald Sutherland, der kurz zuvor seine Tochter verloren hat, durch die verfallenden Palazzi Venedigs, weil er glaubt, seine Tochter im roten Regenmantel gesehen zu haben, und wird dabei ermordet. 

 

Marainis Anspielungsreichtum ist es, der diesen Roman über die reine Familienaufstellung hinaushebt. Hier ist sie in ihrem Element. Nach einer durch die Flucht vor dem Faschismus geprägten Jugend, verkehrte Maraini in den 50ern in den literarischen Kreisen Italiens, gründete eine Literaturzeitschrift, heiratete den Schriftsteller Alberto Moravia und war mit Pier Paolo Pasolini befreundet, mit dem sie regelmäßig nach Afrika in den Urlaub fuhr. Und als ob das alles nicht genug wäre, war sie auch noch eine wichtige Stimme der italienischen Frauenbewegung und hat mit »Erinnerungen einer Diebin« 1972 die Innensicht eines Frauengefängnisses aufgeschrieben.  Dacia Maraini ist die Zeitzeugin eines besseren, progressiveren und kultivierteren Italiens, die sich auch durch 20 Jahre Berlusconi nicht hat unterkriegen lassen.

 

»Das Mädchen und der Träumer«, Folio, 340 Seiten, 22 Euro