Die profilierteste Gegenspielerin des Orbán-Regimes in Ungarn: Ágnes Heller; Foto: Jan Kryszons

Unerwünschte Gäste - Der AfD-Parteitag in Köln (Teil 3/3)

Seit Wochen formieren sich in Köln die Proteste gegen den Partei­tag

der AfD. Die Rechtspopulisten provozieren die kölsche Toleranz.

Die ungarische Philosophin Ágnes Heller erklärt im Interview, warum

die »Freiheit« der Rechtspopulisten totalitär wird.

»In der Geschichte erhält niemand etwas geschenkt«

 


Die Philosophin Ágnes Heller über Totalitarismus, illiberale Demokratien und die politische Situation in ihrer ungarischen Heimat

 

 

Den europäischen Auftakt für eine Reihe von illiberalen, rechten und proto-totalitären Bewegungen machte vor sieben Jahren die ungarische Regierung unter Viktor Orbán. Seine profilierteste Gegenspielerin ist die 87-jährige Ágnes Heller.

 

Sie hat in den vergangenen sechzig Jahren ein umfangreiches Werk vorgelegt, in dessen Mittelpunkt die Selbstbefreiung und die Revolte der Bedürfnisse gegen totalitäre Bevormundung stehen. Heller, die aus einer jüdischen Budapester Familie stammt, überlebte nur durch Zufall die Gewaltherrschaft von Faschismus und Nationalsozialismus. Nach dem Krieg trat sie der kommunistischen Partei bei und wurde Schülerin des marxistischen Philosophen Georg Lukács. Schon bald geriet sie in Opposition zum Stalinismus und war als unabhängige Marxistin ständigen Repressionen ausgesetzt, 1977 emigrierte sie aus Ungarn und nahm Professuren in Australien und New York an. Heute pendelt sie zwischen Budapest und New York. Ihre Interventionen gegen die Orbán-Regierung fanden ein weltweites Echo.

 

Heller nimmt in Köln am Symposium »Extreme -Center« der Akademie der Künste der Welt teil (18. / 19.4.), das sich mit der Tendenz zu einem neuen Faschismus -auseinandersetzt. 

 

Autoritäre Gesellschaftsvorstellungen erwuchsen im 20. Jahrhundert aus dem Totalitarismus: Stalinismus und Faschismus verlangten radikale Unterwerfung. Politische Bewegungen oder Anführer mit autoritären Ambitionen wie Donald Trump verstehen sich heute aber als Hüter gesellschaftlicher Freiheit und werfen ihrerseits dem Liberalismus mit seiner politischen Korrektheit totalitäre und imperiale Absichten vor.Wie schätzen Sie das Verhältnis von alten totalitären und neuen rechtspopulistischen Bewegungen ein?

 


Wir leben in einer modernen Welt. Totalitarismus ist eine moderne Form politischer Herrschaft. Alle totalitären Regime haben gemeinsam, dass sie den Pluralismus illegalisieren und eine zentrale Ideologie propagieren, die einen »Feind« definiert, den das Volk hassen soll. Sie zentralisieren die Macht, sind per definitionem anti-liberal und praktizieren Terror, etwa durch Angst, die Todesstrafe oder Gewalt im Allgemeinen. Ihre Ideologie kann dabei unterschiedlich sein: Rassismus bei den Nazis, »Klassen«-Imperialismus im Bolschewismus, wie wir noch heute in Nordkorea sehen. Isis und der iranische Totalitarismus beziehen sich auf den Islamismus. Im Allgemeinen beginnen diese Totalitarismen mit der Etablierung einer totalitaristischen Partei und setzen sich fort, wenn diese die Macht ergreift.


In einer Massengesellschaft wie unseren europäischen Gesellschaften sind alle Parteien grundsätzlich populistisch, einfach weil sie der Mehrheit schmeicheln und große Versprechungen machen, um gewählt zu werden, egal ob diese realisierbar sind oder nicht. Aber so lange sie die liberale Demokratie, den politischen Pluralismus oder die Herrschaft des Rechts in den Institutionen verankern, ist der Pluralismus gesichert. Unter den Parteien gibt es einige rechts- und linksextreme, die »illiberal« sind, um einmal Viktor Orbáns berühmte Selbstbeschreibung zu benutzen. Falls sie an die Macht gelangen, propagieren sie die Ein-Parteien-Herrschaft, aber keinesfalls eine Klassenherrschaft. Sie zentralisieren die Politik und die Wirtschaft und schüren Hass gegen ihr bevorzugtes Ziel, aber ohne eine spezifische Ideologie mit Ausnahme eines extremen Nationalismus. Aber im Gegensatz zu den Populisten der Klassengesellschaft wie Peron oder Chavez »geben« die Populisten in der Massengesellschaft nichts zurück an die Massen, deren Zustimmung sie suchen. Sie verlassen sich in ihrer Herrschaft auf Angst, Lügen und einen »Adel«, den sie selbst eingesetzt haben — Menschen, die plötzlich sehr reich geworden sind sowie treue Mitglieder des politischen Zentrums. Ich habe diese Strukturen mal als »Bonapartismus« bezeichnet — nach Napoleon III., der auch mit einer Mehrheit der Stimmen gewählt wurde.

 

Zwischen dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts und den »illiberalen Demokratien« der Gegenwart besteht offensichtlich ein Zusammenhang. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede?

 


Totalitarismus und »illiberale Demokratien« haben gemeinsam, dass sie auf eine Konzentration der Macht setzen, bürgerliche Rechte eliminieren oder einschränken und einen Sündenbock erschaffen, meistens Migranten. Sie schüren dann den Hass der Massen gegen diesen Sündenbock als auch gegen alle anderen Parteien und nutzen öffentlich-rechtliche Medien für die Parteipropaganda. Illiberale Demokratien haben ihre Ursachen in einer Form der Desillusionierung mit der vorherigen Machtelite und ihrer Schwäche. Heute kommt noch die Desillusionierung mit der Political Correctness und ähnlichen demokratischen Ideologien hinzu, die von Menschen, die einen sehr traditionellen Lebensstil bevorzugen und nur in die extreme Rechte vertrauen, als unterdrückerisch wahrgenommen werden.

Der Hauptunterschied zwischen Totalitarismus und illiberalen Demokratien sind die Abwesenheit der Todesstrafe für »politische Verbrechen« sowie die Existenz von Opposition und einer gewählten Kraft, wie etwa einem Parlament. In illiberalen Demokratien können die Medien wegen des Internets nicht vollständig kontrolliert werden, außerdem haben sich einfach die Umstände geändert. Meistens sind diese illiberalen Demokratien Mitglied der EU oder in ihrem Nahbereich. Bevor sie an die Macht kommen, wirken »Populisten« immer wie die Verkörperung von Freiheit. Aber sobald sie an der Macht sind und ihre Versprechen nicht halten, verlassen sie sich im Gegensatz zum Totalitarismus eher auf Gleichgültigkeit, Angst oder Apathie als auf eine aktive emphatische Unterstützung. 

 

Orban, Trump, Kaczynski, Putin, Erdoğan, Rodrigo Duterte, Marine Le Pen, Berlusconi … die Liste der Populisten ist lang. Was haben sie gemeinsam?

 


Bei dieser Aufzählung fällt mir Folgendes auf. Alle diese »Populisten« haben zwei Dinge gemeinsam, und zwischen denen besteht eine Verbindung. Sie machen sich alle eine Überzeugung der Massengesellschaft zu Nutze: Die Zahlen entscheiden, was richtig oder falsch ist — und die Mehrheit hat immer Recht. Keiner von ihnen ist zudem ein »Intellektueller«, ein Kulturmensch. Weil man heute drei Hochschulabschlüsse haben und trotzdem ein kultureller Barbar bleiben kann, können kulturelle Barbarren auch leicht die höchsten Machtpositionen in Parteien und dem Staat besetzen. Ein typisches Beispiel dafür ist Trump und seine Tweets. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Sprache der öffentlichen Institutionen und der Sprache des Stammtischs. »Er ist einer von uns«, sagen die Trumpisten, weil er redet und denkt wie wir.

 

Und worin unterscheiden sich die Populisten voneinander?

 


Man darf die historische Tradition nicht vergessen. Die USA sind eine liberale Demokratie, in der die Verfassung sogar für Trump-Anhänger heilig ist. Sie ist in Stein gemeißelt. Trump wird niemals die gleiche Macht wie Putin oder Erdoğan haben, das ist schlicht unmöglich. In Russland gab es niemals auch nur irgendeine Demokratie, nur Autokratien und Totalitarismus. In dieser Tradition steht Putin, auch wenn er bei der letzten Wahl schummeln musste. In der Türkei ist die Situation ähnlich. Dort speist sich die Unterstützung für den Autokraten zuerst aus der Kurdenfrage und die Kurden sind auch das hauptsächliche Ziel des Hasses, den die Regierung streut. Mit ihrem Islamismus bricht sie zudem mit der kemalistischen Tradition der Türkei. Putin und Erdoğan sind bereits Diktatoren und ähneln einander darin, dass sie Einschüchterung als politisches Mittel benutzen, Oppositionelle ins Gefängnis werfen oder zum Teil auch ermorden lassen. Sie sind die Art von Autokraten, die einem totalitären Diktator am nächsten kommt.

 

In welcher historischen Tradition steht das Orbán-Regime?

 


Viktor Orbán kann ebenfalls auf die ungarische Geschichte zurückgreifen. In Ungarn gab es nie eine liberale Demokratie, die Menschen haben nie gelernt, demokratisch zu handeln und zu denken. Da Ungarn Mitglied der EU ist, kann Orbán nicht einfach politische Gegner ins Gefängnis werfen und muss daher auf seine Medien- und Propagandamaschine und seinen Staatsanwalt zurückgreifen, um Lügen über sie zu verbreiten und sie vor Gericht zu stellen — wo er dann regelmäßig verliert. Er entscheidet alles in diesem Staat, auch was und wo gebaut wird und wer ein großes Stück Land, ein Schloss oder eine hohe Position erhält. Genau das war die Praxis im ungarischen Feudalismus im ersten Teil des 20. Jahrhunderts und im ungarischen Kommunismus. Kaczynski ähnelt Orbán am meisten, aber er stammt aus dem Mittelalter, während Orbán modern ist. Wenn man an Italien denkt, darf man den Duce nicht vergessen und auch in Frankreich gab es mehrere antisemitische und rechtsextreme Bewegungen, wozu auch Bonaparte zählt. Aber die Franzosen haben noch nie einen totalitären Führer gewählt, das macht sie fast einzigartig in Europa. 

 

Die ungarische Revolution von 1956 war ein Aufstand gegen das stalinistische Regime, der einherging mit der Selbstorganisation der Bevölkerung, im ganzen Land und in vielen Fabriken wurden Räte gegründet. Auch wenn die Revolution blutig niedergeschlagen wurde, war doch der positive Gehalt dieses Ereignisses nie ganz auszulöschen. Wieso ist Orbán dennoch für viele Ungarn die ideale Verkörperung von Freiheit und Unabhängigkeit?

 


Die Ungarn haben in jedem Jahrhundert eine großartige Revolution organisiert: Im 19. Jahrhundert im Jahr 1848, im 20. Jahrhundert im Jahr 1956. Revolutionen sind ein Akt der Befreiung, aber noch keine Freiheit. Nach einer Revolution müssen erst die Institutionen für Freiheit geschaffen werden. Nach einer gescheiterten Revolution kann das nicht passieren. Aber wenn mit »politischer Revolution« auch eine radikale Veränderung der Herrschaft gemeint ist, dann war 1989 auch eine Revolution. Diese Revolution haben die Ungarn jedoch geschenkt bekommen. Sie hat sie keine Mühe gekostet, sie haben keinen Preis dafür gezahlt. Aber in der Geschichte erhält niemand etwas geschenkt. Man zahlt immer etwas dafür. Das ist es, worunter die Ungarn heute unter Orbán leiden müssen: Sie zahlen mit Unfreiheit für eine Freiheit, die sie sich nicht verdient haben. Ich hoffe, dass sie in Zukunft die notwendigen Mühen auf sich nehmen, die man braucht, um die Institutionen der Freiheit zu etablieren. Die Revolution von 1956 ist — wie alle nationalen Feiertage — mittlerweile ein Gegenstand der Orbán-Propaganda, bei dem viel verfälscht wird. Die Bevölkerung interessiert das kein bisschen. 

 

Welche Perspektiven sehen Sie für die (rechts-)populistischen Bewegungen? In naher Zukunft — und in den nächsten zehn, zwanzig Jahren?

 


Die Propheten sagen: Wenn du dies tust, wird dies das Ergebnis sein, wenn du eher das tust, wird das Ergebnis das Gegenteil sein. Da ich nicht weiß, wer in der Zukunft welche Entscheidungen treffen wird, kann ich Ihre Frage leider nicht beantworten.