»Mir geht es um die Idee einer Revolte«

Bertrand Bonello über seinen umstrittenen Terrorismus-Thriller »Nocturama«, jugendliche Rebellion und sein Verständnis von politischem Kino

Herr Bonello, »Nocturama« handelt von einer Gruppe Jugendlicher, die Anschläge in Paris verüben. Die Motive der Terroristen bleiben unklar. Was hat Sie motiviert, diesen Film zu machen?

 

 

Die Geschichte von »Nocturama« geht zurück ins Jahr 2010. Damals bereitete ich meinen Film »Haus der Sünde« vor, der im frühen 20. Jahrhundert spielt. Plötzlich bekam ich Angst, mich zu sehr von der Gegenwart zu ent-fernen. Ich nahm mir vor, mich danach wieder dem Hier und Jetzt zu widmen. Damals wie heute empfinde ich die Gegenwart als geprägt von einer großen Spannung, als ob gleich etwas explodieren würde. Das wollte ich in einen Film übersetzen, der nicht diskutiert, sondern eher wie ein Actionfilm funktioniert.

 

Können Sie diese Spannung, die Sie empfunden haben, genauer beschreiben?

 

Sie ist zugleich sehr konkret und abstrakt. Man kann sie fühlen, wenn man in die Metro geht, auf die Straße, in eine Bar oder wenn man die Zeitung aufschlägt. Eine Schwere, die ich in Paris, wo ich wohne, spüren kann. Wahrscheinlich ist es in London oder Berlin ähnlich. Eine Spannung, die man fast berühren kann.

 

Eine Aggressivität?

 

Ja, aber eine, die im Zaum gehalten wird. Das war zumindest mein Gefühl, als ich sehr schnell die erste Version des Drehbuchs geschrieben habe. Dann bekam ich das Angebot, einen Film über Yves Saint-Laurent zu drehen. Also legte ich das Projekt beiseite. Ende 2014 habe ich das Script zu »Nocturama« wieder herausgeholt.

 

2015 gab es mehrere schwere Anschläge in Paris. Ihr Film scheint damit aber auf den ersten Blick nichts zu tun zu haben. Das verwirrt.

 

Ich weiß. Wenn man heute das Wort Terrorismus in den Mund nimmt, geht es immer um islamischen Fundamentalismus, mir geht es aber mehr um die Idee einer Revolte. Solche Revolten gibt es, seit es Nationalstaaten gibt.

 

Könnte man »Nocturama« eher als einen Film über Jugend als über Terrorismus bezeichnen?

 

Ja, ich wollte mit sehr jungen Figuren arbeiten. Selbst wenn meine Protagonisten nur ein paar Jahre älter wären, also Mitte zwanzig, würde der Film etwas ganz anderes beschreiben. So haben sie noch etwas Naives und Unschuldiges, nur so konnte der Film funktionieren. Als »Nocturama« in Frankreich in die Kinos kam, haben die jungen Leute ihn wirklich verstanden und nicht in Verbindung gebracht mit dem, was wir 2015 durchleiden mussten, auch wenn das Teil der beschriebenen Spannung ist.

 

Haben Sie nach den Anschlägen im vorletzten Jahr irgendetwas an dem Film geändert?

 

Gedreht haben wir »Nocturama« im Sommer 2015, also nach der Attacke auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Nach den Anschlägen im November hatte ich die erste Schnittversion fertig. Natürlich gab es viele Diskussionen mit den Produzenten und den Geldgebern. Aber wir waren uns einig, dass der Film von etwas anderem handelt. Der Film ist eine Fiktion und spielt in seiner eigenen Welt. Das Einzige, was wir geändert haben, ist der Titel. Eigentlich sollte er »Paris est une fête« lauten, das ist der französische Titel von Hemingways »A Moveable Feast« (Deutscher Titel: »Paris — Ein Fest fürs Leben«; Anm. d. Red.). Nach den Anschlägen vom 13. November wurde das Buch jedoch in Paris zu einer Art Symbol: Jeder kaufte es, verschenkte es an Freunde oder Fremde. Der Titel wäre als Anspielung auf die Terrorattacken gedeutet worden, das wollte ich vermeiden.

 

Der Titel »Nocturama« erinnert an den Roman »Glamorama« von Bret Easton Ellis aus dem Jahr 1998, auch inhaltlich gibt es Ähnlichkeiten. Spielte das eine Rolle bei der Wahl des neuen Titels?

 


Vor 15 Jahren wollte ich tatsächlich einen Film drehen, der Ellis’ Buch mit Pier Paolo Pasolinis Roman »Petrolio« verbindet. Aber das Projekt war zu teuer. Der Titel kommt eigentlich von einem Album von Nick Cave mit demselben Namen. Das Album ist gar nicht mal besonders gut, aber ich mochte den Titel. Er betont auch mehr das fiktionale Element.

 

Formal erinnert gerade der erste Teil von »Nocturama« an Alan -Clarkes Film »Elephant« von 1989 über den Nordirland-Konflikt, der allerdings noch radikaler ist: Dort sieht man vierzig Minuten lang nur, wie immer wieder unterschiedliche Menschen wortlos durch Belfast laufen und am Ende jemanden erschießen. War das eine Inspiration?

 


Ja. Es gibt bei Clarke keinerlei Kontext oder Erklärung, aber am Ende der vierzig Minuten hat man verstanden, was Bürgerkrieg ist: Jemand geht über eine Straße und erschießt jemand anderen. Es ist großartig, wenn ein Regisseur es schafft, dir etwas wirklich Wichtiges zu vermitteln, ohne dich mit der Nase darauf zu stoßen.

 

Der Diskurs über Terrorismus wird bestimmt durch die Nachrichten. Was kann das Kino dazu beitragen?

 

Es kann etwas beitragen, aber nicht, wenn es erklären will. Ein Filmemacher ist kein Journalist, kein Politiker, kein Soziologe. Aber man kann versuchen, einen Film darüber zu machen, was man sieht und fühlt. Dabei ist deine Aufgabe immer, den bestmöglichen Film zu drehen, und nicht zu versuchen, Probleme zu lösen. Es geht nicht darum zu sagen: Das ist gut und das ist schlecht, und ich schlage mich auf die Seite der Guten. Ein politischer Film versucht nach meinem Verständnis einfach nur, mit Hilfe einer Fiktion zu zeigen, was ist.

 

 

Bertrand Bonello wurde 1968 in Nizza geboren. Seine Karriere begann er als Musiker, unter anderem spielte er mit Françoise Hardy und Elliott Murphy. Sein erster Spielfilm »Quelque choses d‘organique« (1998) lief auf der Berlinale. Für »Le pornographe« (2001), mit Jean-Pierre Léaud in der Hauptrolle, gewann er in Cannes den Preis der internationalen Filmkritik. »Nocturama« ist sein siebter Langfilm, er wurde koproduziert von der Kölner Firma Pandora.