Die Vorfahren der Trolle

Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen widmen sich in diesem Jahr mit einem großen Sonderprogramm den »Sozialen Medien vor dem Internet« — was steckt dahinter?

Vom Internet als »asozialem« Medium ist in letzter Zeit viel die Rede — von rassistischen Trollen, spionierenden Hackern, Darknet-Kriminellen und Fake-News-Verbreitern. Aber kann es überhaupt ein »unsoziales« Medium geben? Schließlich sind Medien Mittel der Kommunikation, der Verbindung mindestens zweier Menschen. Was meinen die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen also, wenn sie ihr großes Themenprogramm dieses Jahres »Soziale Medien vor dem Internet« überschreiben, wenn letztlich alle Medien sozial sind?

 

»Den Konsumenten von Medien zum Produzenten von Medien zu machen, war jahrzehntelang ein Traum linker Medientheoretiker«, schreibt der Kurator des Programms Tilman Baumgärtel in der Ankündigung. »Man hoffte auf eine Medienzukunft, in der die Macht der Verlage und Sender zugunsten von demokratischen und partizipativen Medien gebrochen wäre«. Es geht in Oberhausen also um historische Versuche, eine Art Do-It-Yourself-Alternativ- oder Gegenöffentlichkeit zu schaffen.

 

Die audiovisuellen Beispiele, die Baumgärtel ausgewählt hat, sind vielfältig, lassen sich aber grob in vier Bereiche unterteilen: Entweder sie haben ihren Ursprung in den Vi-sionen medieninteressierter Künstler, in der Technikbegeisterung oftmals sehr junger Amateure, in Initiativen für alternative lokale Medienangebote oder in politischem Aktivismus zwischen Bürgerbeteiligung und Spaßguerilla. Gera--de lokale und politische Anliegen überschneiden sich dabei häufig.

 

Ein rührendes Beispiel für ein lokales Projekt ist ein kurzer Ausschnitt aus dem Programm von »Lanesville TV«, einem der ersten Piratenfernsehsender der USA. Reporter Bart Freedman läuft mit einem Kinderwagen, in dem die unhandliche Technik deponiert ist, durch die Nachbarschaft und fängt mit der Videokamera Alltägliches ein: Ein Junge angelt in einem Teich, ein Mann präsentiert stolz sein Golfcart, eine Mutter ihr Neugeborenes. Der entspannte Hippievibe von Freedman, es ist das Jahr 1972, steht im Kontrast zur konfrontativen Stimmung in »Radio Freyes Dreyecksland«. In dieser Kurzdoku aus dem Jahr 1984 stellen sich die Macher des gleichnamigen Piratenradiosenders aus Freiburg der politischen Kritik ihrer Hörer. Dabei geht es hoch her.

 

Am Neujahrstag des gleichen Jahres realisierte der südkoreanische Medienkünstler Nam June Paik über Satellit eine Konferenzschaltung zwischen Paris und New York und ließ unter anderem Laurie Anderson, Peter Gabriel, Merce Cunningham, Joseph Beuys und Allen Ginsberg auftreten — »Good Morning, Mr. Orwell« benannte er seine Sendung anspielungsreich. Paik träumte schon lange von einer »direkten Demokratie« via Satelliten-TV — wie ein Gespräch mit Joseph Beuys aus dem Jahr 1974 belegt, das ebenfalls im Oberhausener Programm läuft.

 

Nicht über Satellit, sondern Telefon funktionierte der Austausch in der Bulletin-Board-Systems-Szene ab Ende der 1970er Jahre, so konnten die frühen Computernerds Texte oder auch Spiele auf ihre Rechner übertragen. Der in Oberhausen gezeigte sechste Teil von »BBS: The Documentary« mit dem Untertitel »Hacking, Phreaking, Anarchy, Cracking« handelt davon, wie damals schon die Grenzen der Legalität überschritten wurden. Allerdings auf geradezu unschuldige Weise: Was hätte er denn als 13-Jähriger tun sollen, als die Eltern geschockt mit der 500-Dollar-Telefonrechnung ins Kinderzimmer kamen, fragt einer der Interviewten? Im nächsten Monat hackte er die Gratisnummern der Telefongesellschaften, um den Ärger mit den Eltern zu umgehen.

 

Das ist ohnehin die spannende Frage, die das Programm in Oberhausen stellt: Wann verlor der Traum linker Medientheoretiker seine Unschuld? Ein Datum lässt sich sicher nicht nennen, aber deutlich wird, dass sich — retrospektiv betrachtet — in den utopischen Kunstaktionen, in basisdemokratischen Modellen, in freakigen Experimenten, im kindlichen Überschwang schon Spuren des »asozialen« Internets finden lassen, das heute so sehr im Fokus steht.

 

So relevant und interessant die Thematik ist, ästhetisch ist das Oberhausener Programm eher eine Strapaze für die Sinne: Da Baumgärtel sich auf die Zeit von der beginnenden Videorevolution bis in die frühen 90er Jahre konzentriert, sind Bild- und Tonqualität oftmals bescheiden. Ausnahmen sind zwei kurze analog gedrehte Filme von Harun Farocki und der wunderbare feministische Kurzspielfilm »Für Frauen — 1. Kapitel«, den die DFFB-Studentin Cristina Perincioli 1971 mit weiblichen Supermarkt-Angestellten und Hausfrauen gedreht hat. Dabei hätte man den Analogfilm-Anteil im Programm durchaus erhöhen können. »Soziale Medien« in Baumgärtels Sinne begannen nicht mit der Videorevolution: Die 16mm-Filme US-amerikanischer alternativer Nachrichtenkollektive und –vertriebe wie »Third World Newsreel« und »California Newsreel« gehören durchaus in diese Tradition. Ähnliches gilt für einige Experimentalfilmgruppen der 1960er Jahre, die auch eigene Vertriebsnetzwerke aufbauten.

 

Aber vielleicht ist diese Kritik geschmäcklerisch: Filme wie Andrew Bujalskis »Computer Chess« (2013) haben ja längst gezeigt, dass auch die frühe Videoästhetik im Retro-Hipsterkanon angekommen ist.

 

Do 11.5.– Di 16.5., Lichtburg Oberhausen. Infos: kurzfilmtage.de