Griff in die Genrekiste

Cate Shortlands Berlin Syndrome überzeugt als eigensinniger Thriller

Clare arbeitet als Fotografin, weil sie gerne bestimmt, wie nahe die Dinge ihr kommen dürfen — zumindest ist das der Eindruck, den man bekommt, wenn man der jungen Australiern beim Stromern durch Berlin zuschaut. Andi darf ihr näher­kommen, hat sie beschlossen: Der red- wie leutselige Lehrer gefällt ihr, er scheint genau der richtige zu sein für eine kleine Ausschweifung in der Fremde. Als sie am Morgen danach in seiner Wohnung erwacht, sind die Türen und Fenster alle fest geschlossen. Andi hält sich Clare nun als seine Gefangene.
Der Titel »Berlin Syndrome« lässt an das Stockholm-Syndrom denken: Jenen psychologischen Mechanismus, mit dem sich Entführungsopfer gegen ihren Zustand völligen Ausgeliefertseins wehren, indem sie eine Allianz mit dem Täter suchen. Aber identifiziert bzw. solidarisiert sich Clare wirklich irgendwann mit Andi, oder geht es eher um den Versuch, einen Modus vivendi zu finden, der in ihrer Freiheit endet?

 

Um beim Titel zu bleiben: Warum Berlin? Clare interessiert sich für DDR-Architektur, Andi lebt im Ostteil der Stadt. Da liegt es recht nahe, »Berlin Syndrome« als eine etwas banale Allegorie auf die ehemalige Situation der Bevölkerung der DDR zu verstehen. Dieser Bezug findet sich auch in Melanie Joostens gleichnamigem Roman aus dem Jahr 2012 — und das dicke. Cate Shortlands Inszenierung ist aber wie schon in ihrem exzellenten »Lore« (2012) schlauer als die literarische Grundanlage des Films.

 

Wo bei Joosten die Beziehung von Clare und Andi die DDR-Situation in nuce sein soll, ist bei Shortland eine allgemein verbreitete Idee über das Funktionieren der DDR dazu da, Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnisse anders als bloß psychologisch zu erzählen. Da zeigt sich, was Regie bedeutet: Shortland bleibt an den Darstellern, deren Körpern und Körperlichkeit; ihre Räume, die Farbe von Wänden und deren Texturen erzählen Seelen­zustände. Vor allem weiß Shortland, wann es an der Zeit ist, in die Genre­kiste zu greifen, und eine Situation ins populärformale zu überführen. Sie findet eine Balance zwischen dem Erwart-, in mancher Hinsicht sogar Einforderbaren und dem Schlaf­wandlerischen, Verstiegenen, Intimen, Eigensinnigen. Das zeichnet ihren Stil aus und lässt einen all die Thriller-Mechanismen anders erfahren. Ein erstaunliches Werk.