»Und dann fängt man ganz von vorne an«

Statistisch gibt es sie eigentlich gar nicht, faktisch leben sie aber hier: die Illegalen. Den Menschen ohne Papiere werden viele Rechte vorenthalten, unter anderem der Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem. Yvonne Greiner hat Orte aufgesucht, wo sie trotzdem versorgt werden.

»Ich mache keine Politik, ich mache Therapie«, sagt Hamidiye Ünal. Doch sie weiß selbst, dass das Thema, über das wir sprechen, diese Trennschärfe nicht zulässt: Es geht um die medizinische und psychosoziale Versorgung von MigrantInnen und vor allem so genannter Illegaler. Gemeint sind Menschen, die keine gültigen Papiere besitzen und damit im Falle einer behördlichen Kontrolle ausgewiesen oder abgeschoben werden können.

Retraumatisierung durch deutsche Bürokratie

Hamidiye Ünal arbeitet seit elf Jahren als Diplom-Psychologin im Therapiezentrum für Folteropfer der Caritas in Köln. 1985 wurde die Einrichtung als »Psychosoziales Zentrum für ausländische Flüchtlinge« gegründet. Hier können Flüchtlinge mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus psychotherapeutische Beratung und Behandlung und Sozialberatung in Anspruch nehmen. Jährlich gibt es rund 300 Anfragen für einen Therapieplatz, nicht nur aus Köln, sondern aus ganz Nordrhein-Westfalen. Doch die Arbeitskapazitäten des Zentrums sind mehr als ausgelastet.
Hamidiye Ünal ist die einzig türkischsprachige Psychologin der Einrichtung, ihre KlientInnen kommen vor allem aus Kurdistan. »Ein großes Problem ist der Aufenthaltsstatus«, sagt sie. »Die meisten sind nicht illegal hier, aber oft ist unsicher, wie lange sie noch bleiben können, z.B. weil sie nur eine Duldung haben.« Eine Duldung bedeutet jedoch rechtlich nicht mehr als die Aussetzung der Abschiebung. Fallen die Gründe weg, die eine Ausreise des Flüchtlings aktuell verhindern, droht erneut die Ausweisung.
Die Flüchtlinge, die bei Hamidiye Ünal in Behandlung sind, sind schwer traumatisiert. Sie haben in ihren Herkunftsländern Verfolgung, Misshandlung und zum Teil schwere Folterungen erlitten und leiden an den körperlichen und seelischen Folgen. Nach oft mühevollen Fortschritten tritt erneut eine Krise ein, wenn plötzlich ein Ausweisungsbescheid vorliegt. »Aber auch die Unsicherheiten im Alltag – seien es Polizeirazzien im Flüchtlingsheim oder behördliche Kontrollen – führen immer wieder zu Retraumatisierungen«, sagt Hamidiye Ünal. »Und dann fängt man in der Therapie ganz von vorne an.« Da eine sinnvolle psychosoziale Versorgung mit einem unsicheren oder gar illegalen Aufenthaltsstatus kaum möglich ist, bemüht sich die Psychologin, durch Atteste und Anträge in das juristische oder verwaltungstechnische Verfahren einzugreifen. Das sei Teil ihrer Arbeit, sagt sie. »Ich muss diese Menschen schützen – gesundheitlich. Das ist meine Verantwortung. Wie soll das gehen ohne sicheren Aufenthaltsstatus?«
Die Bedingungen in Deutschland, vor allem die aufenthaltsrechtlichen Probleme, seien für Flüchtlinge oft retraumatisierend, bestätigt auch Arif Ünal, Leiter des »Gesundheitszentrum für Migranten«, das dem Paritätischen Wohlfahrtsverband angegliedert ist. »Viele unserer Klienten entwickeln Ängste mit somatischen Ausprägungen wie Herzphobien, Ohnmacht, permanente Schmerzen.« Für 2002 liegen bereits 300 Neuanmeldungen für das psychosoziale Betreuungsangebot vor. Doch auch hier reicht die personelle Ausstattung bei weitem nicht aus, um dem Bedarf gerecht zu werden. Im Dezember 1995 wurde das Gesundheitszentrum als offene Beratungsstelle mit dem Ziel gegründet, die medizinische und psychosoziale Versorgung der MigrantInnen zu verbessern und sie in das öffentliche Gesundheitswesen zu integrieren. Das erweist sich jedoch als ausgesprochen schwierig. »Seit 40 Jahren leben MigrantInnen in Köln«, sagt Arif Ünal, »doch das
hat keinen maßgeblichen Einfluss auf das Gesundheitssystem gehabt. Es ist weiterhin deutschenzentriert.« Dabei geht es nicht nur um sprachliche Hindernisse. Hinter denen stecke nämlich oft ein kulturabhängiges Verständnis von dem, was als krank oder gesund wahrgenommen wird, so Arif Ünal. Die Rate an Fehldiagnosen sei bei Migran-
tInnen extrem hoch. Das Gesundheitszentrum bietet deshalb auch Fort- und Weiterbildungen für medizinisches Personal an, mit dem Ziel einer interkulturellen Öffnung des öffentlichen Gesundheitssystems.

Anerkennung der »versteckten Population«

Wieviele Illegale insgesamt in Köln leben, weiß niemand, sie werden von keiner Statistik erfasst. Mit Schätzungen tun sich alle schwer – nicht nur Dagmar Dahmen, Leiterin des städtischen Ausländeramts: »Wir haben überhaupt keine Anhaltspunkte.« Für das gesamte Bundesgebiet schwanken die Schätzungen zwischen 100.000 und einer Million Menschen, so der Bericht der Süßmuth-Kommission, in dem auch festgehalten wird: »Die Zahl der illegal in Deutschland lebenden Zuwanderer hat im letzten Jahrzehnt vermutlich zugenommen. Verlässliche Daten hierzu gibt es nicht.« Warum eigentlich nicht? Um empirisch abgesichertes und nachvollziehbares Wissen zusammentragen zu können, müsste man willens sein, diese »versteckte Population« als solche anzuerkennen. Doch die Anerkennung, dass diese Menschen zwar über keine gültigen Papiere verfügen, sich aber faktisch auf deutschem Staatsgebiet aufhalten, hätte möglicherweise Konsequenzen, die zum Beispiel so aussehen könnten: Ein aktuelles Rechtsgutachten von Ralf Fodor, das vom Erzbischöflichen Ordinariat Berlin in Auftrag gegeben wurde, kommt zu dem Schluss, dass »Menschen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und hierfür weder eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung, Aufenthaltsgestattung noch eine Duldung besitzen, bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt Ansprüche auf Leistungen des staatlichen Gesundheitswesens haben.«
Im Moment gilt im staatlichen Gesundheitswesen jedoch noch das Prinzip: Ohne Chipkarte und Geld keine medizinische Behandlung. Dieses Prinzip versucht ein UnterstützerInnen-Netzwerk von Initiativen und ÄrztInnen zu unterlaufen. Den Kontakt zwischen den Illegalen und den ÄrztInnen vermittelt in erster Linie die Arbeitsgruppe Medizinische Versorgung der Kampagne »kein mensch ist illegal«. Die wöchentlichen Sprechstunden sind seit dreieinhalb Jahren eine wichtige Anlaufstelle für Illegale mit gesundheitlichen Problemen. In Köln gibt es rund 40 ÄrztInnen, die sich bereit gefunden haben, Illegale medizinisch und psychosozial zu versorgen. In den allermeisten Fällen erhalten die MedizinerInnen dafür keinen Pfennig.
Die Praxis der beiden GestalttherapeutInnen Gert Levy und Norma Korbella ist die einzige psychotherapeutische Praxis im Kölner UnterstützerInnen-Netzwerk. Wie schon Hamidiye Ünal und Arif Ünal erzählt auch Gert Levy, dass die Illegalen vor allem an »posttraumatischen Belastungsstörungen« leiden: Die frühere Traumatisierung durch Misshandlung, Folter und Flucht findet jetzt ihren Ausdruck in körperlichen Reaktionen oder psychischem Verhalten. Gert Levy erzählt von einem algerischen Klienten, der das Haus nicht mehr verließ aus lauter panischer Angst, entdeckt zu werden: »Wenn er dann aus dem Haus ging, verhielt er sich so auffällig, dass die Gefahr wirklich groß war, dass er entdeckt würde. Wir sind dann einmal wöchentlich zusammen Kaffee trinken gegangen, ein Stück Kuchen essen. Das war angstlösend, weil er die Erfahrung machte, dass er sich im öffentlichen Raum bewegen konnte, vorsichtig natürlich und konzentriert, aber immerhin.« Eine Retraumatisierung sei jedoch willkürlich möglich, betont Gert Levy, nicht nur durch offensichtliche Ereignisse wie eine Polizeirazzia. »Manchmal sind schon normale medizinische Untersuchungen ein Problem. Und man kann jemandem, der auf den Fußsohlen gefoltert wurde, nicht einfach die Fußnägel schneiden.« Diese Schwierigkeiten medizinischer Behandlung gelten natürlich nicht nur für Illegale. Unabhängig vom Aufenthaltsstatus sieht sich ein Arzt im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen oft mit Problemen konfrontiert, für die er nicht in jedem Fall qualifiziert ist und die viel Zeit erfodern.

Solidarfond als pragmatische Hilfe

Um die gesundheitliche Versorgung Illegaler zumindest finanziell abzusichern, schlägt Gert Levy die Einrichtung eines Solidarfonds vor. Speisen könnte sich der Fonds seiner Vorstellung nach aus Beiträgen der kommunalen Stellen wie Sozial- und Gesundheitsamt. Die Vergabe der Gelder solle einem Kontrollgremium unterliegen, an dem die ÄrztInnen genauso beteiligt sind wie die öffentlichen Stellen und die Initiativen aus dem UnterstützerInnen-Netzwerk. »Es geht bei diesem Vorschlag nicht um einen politisch-strategischen Ansatz«, sagt Levy, »es geht pragmatisch um die Frage, wie konkrete Hilfe und Versorgung abgesichert werden kann.«

Aufgrund personeller Schwierigkeiten sieht sich die Arbeitsgruppe Medizinische Versorgung der Kampagne »kein mensch ist illegal« nicht in der Lage, die wöchentlichen Sprechstunden für Illegale weiterzuführen. Es werden also NachfolgerInnen gesucht! In den Sprechstunden geht es in erster Linie um die Vermittlung von Kontakten zu ÄrztInnen, die Illegale behandeln. Medizinische Kenntnisse sind nicht unbedingt notwendig, Fremdsprachenkenntnisse aber natürlich von Vorteil.
Am 17.01.02 findet für alle Interessierten ein offenes Plenum statt: 18 Uhr, in den Räumen von agisra, Steinberger Str. 40, Köln-Nippes.