Foto: Dörthe Boxberg

»Entzücken am Unverständlichen«

In der Schule war sein Deutsch nicht das beste, den Heinrich-Böll-Preis bekommt er dieses Jahr trotzdem verliehen. Seit fast drei Jahrzehnten ist Ilija Trojanow der Weltenschreiber der deutschen Literatur

 

Herr Trojanow, was bedeutet Ihnen die Verleihung des Böll-Preises? Es ist schon ein besonderer Preis für mich, aus zwei Gründen. Erstens habe ich tatsächlich schon früh Böll gelesen. Als erstes seinen Roman »Und sagte kein einziges Wort«. Das war in Essen, wo ich sozusagen richtig Deutsch gelernt habe, mit 12, 13 Jahren. Das Buch hat mich damals unheimlich bewegt. Der zweite Grund ist, dass ich wie Böll, Grass und nicht wenige andere Autoren der Ansicht bin, dass Literatur eine gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Funktion erfüllt. Dass man mit der Poesie tatsächlich Sprache erweitert, verändert, vertieft. Und mit ihr die Plattitüden und Schablonen, die in der Öffentlichkeit dominieren, etwas zu verwischen und zu verwirren vermag. 

 

Sie haben erst in Essen richtig Deutsch gelernt? Wir haben 1972 in München politisches Asyl erhalten. Kurz darauf hat mein Vater eine Stelle in Kenia bekommen, wo ich auf eine englische Schule gegangen bin. Als wir nach fünf Jahren nach Deutschland zurückkamen, dann nach Essen, hatte ich das Deutsch, was ich vorher gelernt hatte, natürlich wieder vergessen. Mir ist übrigens neulich mein erstes deutsches Schulzeugnis wieder in die Hände gefallen. Da steht: »Ilija ist in Deutsch noch nicht auf dem Stand der Klasse, aber da er gute Fortschritte macht, wird er versetzt« (lacht).

 

Sie sind seit vielen Jahren immer wieder zu Gast in Köln. Was verbindet Sie mit dieser Stadt? Zum einen ist das Literaturhaus einfach toll! Es macht seit über 20 Jahren ein gutes, anspruchsvolles, weltoffenes Programm. Dadurch, dass Bettina Fischer und davor Thomas Böhm schon früh Interesse an meinem »afrikanissimo«-Projekt hatten, also einmal im Jahr eine Autorin, einen Autor aus Afrika an verschiedenen Orten in Deutschland vorzustellen, war das immer wieder ein Anlass, auch nach Köln zu kommen. So habe ich hier im Laufe der Jahre auch meine eigenen Bücher vorgestellt. Außerdem ist Humor für mich total wichtig und so bin ich immer wieder über das Rheinländische im Allgemeinen gestolpert, ob als Kabarett-Fan etwa bei Volker Pispers, in der Literatur bei Böll oder interessanterweise auch in der Musik. In meiner zweiten Zeit in Kenia, in den 80er Jahren, hat mir einmal jemand eine Musikkassette von BAP mitgebracht. Ich kann mich erinnern, dass ich verzweifelt versucht habe, die Texte zu entschlüsseln, aber zugleich den kölschen Dialekt total schön fand. Das war damals so ein Entzücken am Unverständlichen. Wenn ich jetzt aus Anlass der Preisverleihung höre, dass Wolfgang Niedecken meine Bücher schätzt, freut mich das sehr. 

 

Im November haben Sie an der Universität zu Köln über das Thema »Humor und Anarchismus bei Böll« geredet. Warum gerade dieser Aspekt? Man wird als Schriftsteller oft in thematische Schubladen gesteckt, wobei dann andere Aspekte weniger auffallen. Leute, die eine Lesung von mir besucht haben, wissen, dass es eigentlich keinen Roman gibt, der nicht auch mit Humor und Satire arbeitet. Das ist ein aufklärerisches Instrument, das ich auch an anderen Autoren sehr schätze. Ich glaube tatsächlich, dass diese Qualität in Bölls Werk bisher unterschätzt wird, bis auf die wenigen berühmten Satiren. Für meinen Vortrag habe ich auch »Ansichten eines Clowns« gelesen und darin einfach mal alles unterstrichen, was ich satirisch, gewitzt, lustig fand. Das wurden dann ziemlich viele Stellen.

 

In »Nach der Flucht«, deinem aktuellen Buch, steht der bemerkenswerte Satz: »Es gibt ein Leben nach der Flucht, doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang.« Bereits in deinem Romandebüt »Die Welt ist groß und Rettung lauert überall« von 1996 haben Sie die Erfahrung der Flucht mit deinen Eltern 1971 von Bulgarien über Italien nach Deutschland literarisch bearbeitet. Knüpft das neue Buch daran an? Das neue Buch ist nicht direkt autobiographisch, sondern die Essenz einer lebenslangen Beschäftigung mit diesem Thema. Wie sehr es mich beschäftigt hat, habe ich erst beim Schreiben festgestellt. Vieles, was in »Nach der Flucht« steht, konnte ich mit Anfang 20, als ich begonnen habe, an »Die Welt ist groß…« zu arbeiten, nicht überblicken. Da war ich noch zu nah dran. Jetzt war es der Versuch, auf der Grundlage von vielen Gesprächen, Begegnungen und Recherchen eine Art kulturelles Psychogramm des Geflüchteten zu zeichnen, das Exemplarische dieser Biografien herauszuarbeiten. Die Notwendigkeit liegt auf der Hand: Die Geflüchteten kommen ja eher selten zu Wort, es wird aber sehr viel über sie geredet. Der Blick auf die Menschen ist dabei meistens ökonomisch und pragmatisch geleitet. Themen wie Ankunft und Integration werden oft auf Fragen reduziert wie: »Werden die Flüchtlinge Arbeit finden? Kehren sie zurück in ihre Heimat und falls ja, wann? Wie stark werden unsere Sozialsysteme belastet?« Wie aber sieht das Innenleben eines solchen Menschen aus, dessen Existenz aufgespannt ist zwischen dem Zurückgelassenen und Verlorenen einerseits und den Sehnsüchten und der Suche nach Neuem andererseits? Das kommt leider Gottes zu selten zur Sprache und das herauszuarbeiten, war die Hauptabsicht von »Nach der Flucht«.

 

Ein Autor, der geflohen ist, muss sich auch noch anderen Verlustängsten und Herausforderungen stellen. Was überwiegt Ihrer Ansicht nach: die Gefährdungen oder die Chancen für die Literatur im Exil? Viele geflüchtete Schriftstellerinnen und Schriftsteller stellen oft den Verlust in den Mittelpunkt. Natürlich gibt es ein Absterben dessen, was man als integralen Bestandteil des Eigenen begreift. Allerdings gibt es im Exil auch eine Befreiung, eine Öffnung. Ich habe deshalb einmal einen Essay geschrieben über die »literarischen Früchte der Entwurzelung«. Bereits Ovid klagt zwar über seine Verbannung ans Schwarze Meer; er jammert und behauptet in seinen Gedichten, der Dichter sei gelähmt. Aber die Sprache, die er zu diesem Jammern benutzt, ist einfach großartig! Das ist der Widerspruch seit 2000 Jahren: das Schreiben im Exil ist zugleich Leiden und Befruchtung. 

 

Ich sehe das genauso wie Sie. Doch habe ich in meinen eigenen Gesprächen mit geflüchteten Autoren diese Einschätzung so noch nicht gehört. Meine Diagnose ist natürlich abgeklärt und aus der zeitlichen Distanz gesprochen. Jene Autoren, die erst vor Kurzem geflohen sind, sehen zunächst vor allem die Schwierigkeiten, wie man außerhalb der eigenen Heimat schreibt und publiziert. Es ist tatsächlich die Frage, ob jemand, der sein Land verlassen musste, sich selbst damit trösten kann, dass er unter Umständen ein geniales Gedicht über das Exil verfasst. Wenn man selber drinsteckt, vor Nostalgie nach der Heimat halb vergeht, seine Leserschaft verloren hat, dann ist so etwas natürlich kein Trost. 

 

Angesichts der jüngsten Wahlerfolge von AfD oder FPÖ: Kommt der Literatur in Zeiten von Populismus und wieder erstarkenden Nationalismen eine neue, kritische Bedeutung zu? Es gibt natürlich Leute, die das behaupten. Das kann ich jetzt nicht einschätzen. Auf mein eigenes Schreiben hat das keine Auswirkung. Mein ganzes Werk ist ja eine Absage an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Aber ich würde gerne auf etwas anderes hinweisen. Diejenigen, die jetzt völkisch argumentieren, tun ja so, als wollten sie damit auch die Kultur des eigenen Landes schützen, Stichwort »Überfremdung«. Ich glaube, dass das ein großes Missverständnis ist. Es geht ja nicht darum, die eigene gegen die fremde Kultur zu verteidigen. Wir haben es mehr mit einem Kampf der Kultur gegen die Unkultur zu tun. Denn die Kenntnisse der Rechtsextremen über die eigene Kultur, ihren Reichtum und ihre Vielfalt, sind doch eher mangelhaft. Und was vor allem mangelhaft ist, ist die Kenntnis der deutschen Sprache. Das lese ich auch an so mancher unfreundlichen Zuschrift ab, die ich als Mail oder über die sozialen Netzwerke erhalte. Wer aber schon die eigene Sprache nicht wertschätzt, sie nicht liebt und mit ihr ein Zwiegespräch führt — wie viele der sogenannten Migrationsliteraten das ja sehr intensiv tun — , ist vielleicht nicht unbedingt dazu befähigt, das Eigene zu verteidigen. Der deutschsprachige Raum verfügt über eine solche Überfülle an Kultur, dass man sich nicht einbilden sollte, man kenne und ›besitze‹ das alles. Dabei ist die -patriotische Verteidigung des Eigenen eigentlich eine Abwendung davon, brutal gesprochen sogar dessen -Verachtung. Denn so nimmt man das Eigene nicht in seinem Reichtum und seiner historischen Gewachsenheit zur Kenntnis. Und das heißt im Umkehrschluss, dass man auch die vielen fremden kulturellen Einflüsse, die schließlich zu etwas Eigenem geworden sind, sehen sollte.